4. Dez. 2015

TagesWoche Basel

XXIX. Demokratie-Kolumne

Marquis de Condorcet,
der Erfinder der Volksinitiative



Was Johann Heinrich Pestalozzi für die Volksschule ist der Pariser Marie Jean Antoine (Marquis) de Condorcet (1743-1794) für die Di­rekte Demokratie: Erfinder der Volksinitiative, Entwickler einer Phi­lo­sophie der radikaldemokratischen Demokratie und 1792/93, wäh­rend der Französischen Revolution, Verantwortlicher des ersten Verfassungsentwurfes.

Marie Jean Condorcet gilt als der jüngste der insgesamt 140 Enzy­klo­pä­disten und Universalgelehrten, die Mitte des 18. Jahrhunderts in 17 Bänden die Früchte der Aufklärung zu Papier brachten, und als erster politischer Denker der Französischen Revolution. (Charles Coutel: Po­litique de Condorcet. Payot Paris 1996. Daniel Schulz: Freiheit, Re­vo­lu­tion, Verfassung, kleine politische Schriften von Marquis de Condorcet. Akademie Verlag, 2010.) 1743 im Norden von Frankreich geboren, ging Condorcet in Reims auf eine Jesuitenschule und entpuppte sich sehr jung als Mathe-Genie. Der berühmte Enzyklopädist und Mathematiker d’Alembert nahm ihn unter seine Fittiche. Condorcet entwickelte seine ersten mathematischen Kalküle und Theorien, von denen das nach ihm benannte Auswahl-Paradox bis heute bekannt ist. Bereits 1769 liess ihn sein sogar von Voltaire gepriesenes Talent Sekretär der Wissenschafts-Akademie werden, dreizehn Jahre später, als erst 39jähriger, wurde er zum Sekretär der Akademie Française.

Aufklärer versuchten aber nie nur ihr Hauptgebiet zu durchdringen, son­dern hegten die Vorstellung «einer heilsamen Kraft des Wissens für die (bessere) Ordnung der menschlichen Gesellschaft» (Schulz). D.h., Auf­klärer waren auch politisch engagiert. Condorcet schrieb vor allem viele Briefe, Artikel und kleine Schriften beispielsweise für die Abschaffung der Sklaverei, zur Gleichberechtigung der Protestanten, Juden und spä­ter auch der Frauen und Schwarzen. Er rezipierte voller Begeisterung den Kampf um amerikanische Unabhängigkeit und kommentierte begei­stert deren Verfassungsgebung, was ihm den Zugang zu Benjamin Franklin, Tom Paine und Thomas Jefferson eröffnete.

Mit dem Beginn der Französischen Revolution widmete er sich ganz der Politik und wollte dem Fortschritt auch gesellschaftlich zum Durch­bruch verhelfen. Bereits 1790 gründete Condorcet mit Sieyes die So­cié­té von 1789, deren Zeitschrift zu einem der wichtigsten Organe der Re­vo­lutionszeit werden sollte. Im zweiten Anlauf wählten die Pariser Con­dor­cet im Februar 1791 auch in die Nationalversammlung. Nach der Ab­setzung des Königs im August 1792 wurde zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung ohne Monarchie ein National-Kon­vent gewählt, dem auch Condorcet angehörte. Am 21. September 1792 beschloss der Kon­vent in Anlehnung an den neuen, von der amerikanischen Re­vo­lu­tion gesetzten republikanischen Standard, dass in Zukunft keine andere Verfassung gelten soll, als jene, die durch das Volk angenommen wurde - das heisst, durch die Mehrheit der «Männer, die mehr als 25 Jahre alt sind, seit einem Jahr in Frankreich festen Wohnsitz haben und vom Ertrag ihrer Arbeit leben». Das Verfassungs-Referendum hatte Europa erreicht.

Im Oktober 1792 setzte der Konvent ein neunköpfiges Verfassungs-Komitee ein und ernannte Condorcet zu dessen Berichterstatter. Die­sem Komitee oblag die Pionieraufgabe, erstmals in der Welt, eine Verfassung für einen flächenmässig grossen und relativ bevöl­ke­rungs­reichen Staat zu entwerfen – ohne wie die USA diese Schwierigkeit durch eine Bundesstaatlichkeit mit zwei Ebenen der Demokratie überwinden zu können. Denn die französische Republik, so hatte der Konvent bereits beschlossen, hatte «eins und unteilbar» zu sein.

Jetzt musste Condorcet ganz praktisch die Antwort auf die Frage lie­fern, die ihn seit Jahren umtrieb und die er so formuliert hatte: «Wie müssen die institutionellen Bedingungen geschaffen sein, damit demo­kratische Mehrheitsentscheidungen tatsächlich dem Interesse der All­gemeinheit entsprechen und die Menschenrechte als Grundlage der Ent­schei­dung berücksichtigt werden?»

Condorcet beantwortete diese Frage, indem er die Gesetzgebung nicht einfach der Nationalversammlung, dem Parlament, überliess, sondern die Bürger – wenn es ganz nach ihm gegangen wäre auch die Bür­ger­in­nen – in diesen Prozess miteinbezog. Damit sollten die Bürger auch den Zugang zum Staat finden, jene Identifikation aufbauen können, die der grosse Staat nicht wie der Kleinstaat oder die kleine Gemeinschaft einfach mit sich bringen kann. So formulierte Condorcet im Artikel 30 seines Verfassungsentwurfs: «Die Republik hat aktive und sich per­sön­lich engagierende Bürger zur Voraussetzung». In sogenannten, über das ganze Land verbreiteten Primärversammlungen (PV) setzten sich Parlamentarier und Bürger über die Gesetze auseinander; 50 Bürger hatten in diesen PV auch das Recht, Vorschläge für Gesetzes­än­de­run­gen zu verfassen, mit denen sich zuletzt auch die Nationalversammlung befassen muss.

Damit war das Initiativrecht, der progressive Teil der Direkten Demo­kra­tie, geboren. Jedoch nicht mit der Absicht der individuellen Selbst­be­stim­mung, sondern zur Gewährleistung eines diskursiven Raumes, wel­cher die Voraussetzung für zwei Leistungen schuf, die bis heute mehr als aktuelle Ansprüche sind: Einerseits sollten die Reprä­sen­tan­ten wis­sen, wen sie wie zu vertreten haben, und andererseits sollte so das Ver­nunft­potenzial der Bürger freigelegt und deren aufgeklärte Ur­teils­fä­hig­keit ermöglicht werden.

Zwar fiel Condorcets Entwurf dem Machtkampf mit den radikaleren Jakobinern zum Opfer und wurde nicht einmal ernsthaft diskutiert vom Konvent. Doch er blieb eine revolutionäre Pionierleistung, schuf einen direktdemokratischen Grundstein und diente vielen Radikaldemokraten aller Welt in den kommenden Jahrzehnten als wegweisende Inspira­tions­quelle.


Kontakt mit Andreas Gross



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