26. Juni 2015

Tageswoche

XVII. Demokratie-Kolumne

Was vor der Abstimmung vernachlässigt wurde, lässt sich nachher nicht mehr nachholen


Weil die Diskussion vor der Volksabstimmung über die Ände­run­gen im Radio- und Fernsehgesetz dünn, sehr einseitig und wenig dialogisch war, ist nach der Abstimmung nicht klar, welche Ein­wände die knappe Minderheit der Unterlegenen beson­ders moti­viert haben und welche Konsequenzen deswegen aus dem knap­pen Ja der Mehrheit der Stimmenden wirklich zu ziehen sind. Das sind deutliche Hinweise auf Defizite unserer Demokratie, ge­nau­er: Ihre Infrastruktur ist unzureichend geworden.

Für den berühmten amerikanischen Philosophen John Dewey (1859 – 1952) bestand das Wesen der Demokratie in der öffentlichen Diskus­sion, er erachtete die Diskussion sogar als die Gestaltungsform der Demokratie. Diese These stimmt noch viel mehr für die Direkte De­mo­kratie. Kommunikation ist gleichsam ihr Herz und ihre Seele. Schwä­chelt das Herz, droht die Direkte Demokratie zu kollabieren.

Sowohl die Initiative als auch das Referendum lassen sich kommunika­tiv, als spezifische Einladungen zur öffentlichen Diskussion und Deli­be­ration verstehen: Eine Initiative ist immer eine Frage weniger an alle mit der Einladung, über eine bestimmte Idee und Reform nachzudenken, zu diskutieren, sich so mit dem Vorschlag vertraut zu machen, um ihn dann ablehnen oder unterstützen zu können. Ein Referendum dagegen entspringt immer dem meist kritisch verstandenen Wunsch nach mehr Nachfragen zu einer Sache, die im Parlament bereits beschlossen wurde. Ein Referendum bringt zum Ausdruck, dass eine wesentliche Anzahl der Bürgerinnen und Bürger von den Diskussionsergebnissen der parlamentarischen Gesetzesberatung nicht überzeugt sind und kritisch nachfragen möchten, beziehungsweise alle Bürgerinnen und Bürger veranlassen möchten, sich der Sache anzunehmen, sich kundig zu machen und selber zu entscheiden.

Wenn immer also eine Volksinitiative lanciert oder ein Referendum ein­gereicht wird, herrscht ein grosser Diskussionsbedarf. Es ist die Qua­li­tät dieses vielfältigen öffentlichen Diskussions- und Delibe­ra­tions­pro­zes­ses, welches die Qualität des Abstimmungs-ergebnisses bestimmt. Ganz im Sinne der These des Basler Philosophen Hans Saner in einem berühmten Radiogespräch von 1989 mit Max Frisch, als er meinte, nicht die Mehrheitsregel sei das Problem der Demokratie, sondern die Art und Weise wie sie zustande komme.

Wie intensiv wird diskutiert? Gehen die verschiedenen Akteure auf die Argumente ihrer Kontrahenten ein oder spielen sie einfach auf den Mann und versuchen ihn zu diskreditieren, stattdessen Argument zu widerlegen? Können diese wiederum replizieren, differenzieren, nach stossen? Berichten die Medien über die Debatten und bewerten sie die Diskurse? Analysieren sie die Interessen und Motivationen der ver­schie­de­nen Protagonisten und ihrer Art, die eigenen Anliegen zu ver­tre­ten? Sind die Möglichkeiten der verschiedenen Akteure, Auf­merk­sam­keit zu erzeugen und Gehör zu finden, ausgeglichen? Dominieren jene, die unmittelbare Interessen vertreten? Wie unterscheiden sich diese von jenen, die zumindest vorgeben, das Allgemeinwohl und nicht das eigene Geschäft zu priorisieren?

Bürgerinnen und Bürgern, die mit solchen Diskursen konfrontiert wer­den, beginnen, sich selber in ihnen zu verorten. Sie machen sich Dis­kurse zu Eigen und geben sie weiter, nicht nur in Form deren Konse­quenz auf dem Stimmzettel sondern auch in der Öffentlichkeit. So vermag sich die Gesellschaft zu verständigen; wir merken, wie viele denken, was sie umtreibt, welche Argumente die meisten überzeugen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich wie unzureichend der Meinungs­bil­dungsprozess zur Revision des Radio- und TV-Gesetzes war. Ge­wiss haben spezifische Faktoren die Defizite dieses Prozesses noch verstärkt. So waren viele Verlagshäuser Partei in dieser Sache, und ihre Konzernblätter informierten einseitig und negativ, wie eine Studie des Zürcher Forschungsinstituts für Öffentlichkeit und Kommunikation belegen konnte. Die SRG war befangen und hielt sich vor allem in der deutschen Schweiz auch als Plattform der Debatte viel zu sehr zurück. Und schliesslich stritten zwei der Protagonisten gleichsam verdeckt, um nicht zu sagen gezinkt: Gewerbeverband und sogenannte Medien­frei­heit­li­che gaben zwar vor, es ginge ihnen ums Geld und übertrieben dabei ordentlich, tatsächlich wollen sie aber die SRG unterminieren und deren Fundamente zum Einsturz bringen.

Auf der Gegenseitige unterschätzten vor allem die Deutschschweizer SRG-Fans den allgemeinen Unmut über das vielen unverträgliche TV-Angebot und die daraus folgende Lust, über öffentlich-rechtliche An­sprüche zu streiten, während es doch an sich nur um eine System­än­de­rung in der Erhebung der Gebühren ging. Konsequenz: Viel Unmut, viel Aggressivität, viele Behauptungen, viele Monologe, viele Über­trei­bun­gen; wenig Dialog, wenig Verständigungsanstrengungen, wenig Über­zeugungsarbeit, wenig Analyse, wenig Aufklärung und wenig Orientierung.

Ergebnis: Weit verbreitet und unbestimmt sind «Ärger und Unbe­ha­gen» (Kommentar der Berner Zeitung) Zwar scheut sich kaum einer der Protagonisten davor zurück, so zu tun, als ob er wisse, dass die je­wei­li­ge Hälfte der Stimmenden genau seiner persönlichen Meinung ist. Im Grund genommen sind sich aber die meisten bewusst, dass keiner weiss, was die meisten Schweizerinnen und Schweizer vor allem der Deutschschweiz jetzt wollen. Muss für Radio&TV zu viel bezahlt wer­den? Stört tatsächlich die Haushaltspauschale, da es auch Radio&TV-freie Haushalte geben könnte? Oder sind die Unternehmens­bei­trä­ge unangemessen? Mangelte es tatsächlich an der Verfassungs­grund­la­ge? Geben sich SRG-Schaffende wirklich zu arrogant? Ist das Angebot der SRG in der Deutschschweiz wirklich zu seicht und zu flach? Be­kom­men die Tessiner zu viel aus dem SRG-Topf? Fragen über Fragen, welche auch akademische Nachfrage-Bemühungen (Vox-Analysen) nicht klären werden können.

Es gab schon Volksinitiativen, die nach der Abstimmung paradoxer­wei­se intensiver, breiter und besser diskutiert wurden als vor der Ab­stim­mung. Zu denken ist beispielsweise an die Ablehnung der Minarette im Spätherbst 2009, als die schweizerische Öffentlichkeit von den Niede­rungen der UBS und den Eskapaden Gaddafis zu besetzt schien, um auch noch Platz zu finden für eine angemessene Erörterung von Moscheen und Minaretten in der Schweiz oder an den 9.2.2014, da nach den Festtagen vier Wochen nicht ausreichten, um sich über die Folgen einer sehr extremen SVP-Initiative klar zu werden. Nun haben wir ein Referendum, das nach der Abstimmung mehr zu reden geben wird als vorher.

Noch wichtiger als diese Debatten ist aber die Frage, welche Schluss­folgerungen wir aus der Erkenntnis ziehen, der 14. Juni 2015 hätte die infrastrukturellen Defizite der schweizerischen Demokratie auf­ge­deckt: Es gibt schlicht die medialen Räume und Ressourcen nicht mehr, welche Voraussetzungen sind für eine echte breite und differenzierte gesellschaftliche Diskussion und Deliberation. Und wenn der Markt derart die Voraussetzungen für eine fruchtbare Demokratie nicht mehr zur Verfügung stellen kann, muss eben die Gesellschaft selber für Ersatz sorgen. Das hiesse beispielsweise, dass aus dem allgemein gespiesenen Medientopf alle jene finanziell unterstützt werden, die Raum schaffen für diese Debatte, sei sie elektronisch oder papieren, digital oder per Post oder Verträger ins Haus geliefert.


Kontakt mit Andreas Gross



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