12. Juni 2015
TagesWoche
XVI. Demokratie-Kolumne
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Wie durch Quoren nichtrepräsentative Resultate entstehen
Erfahrungen anderer Staaten und aus anderen Zeiten illustrieren, wie sehr die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger geschmälert und ihre Gleichwertigkeit in Frage gestellt würde, wenn der Erfolg von Volksabstimmungen inskünftig nach einer falsch gewickelten Reform der Volksrechte von Beteiligungsquoren, Zustimmungsquoren oder anderen «Supermehrheiten» abhängig gemacht werden würde.
Nach dem ersten Weltkrieg versuchte die deutsche Linke, die in der Revolution entmachteten Fürsten auch noch zu enteignen und deren Vermögen zur Finanzierung der Folgen des von diesen massgeblich verantworteten Kriegs zu nutzen. Weil im Parlament der Weimarer Republik ein solcher Vorschlag aussichtslos war, lancierte die Linke ein entsprechendes Volksbegehren. Nicht weniger als zwölfeinhalb der insgesamt 39,4 Millionen Stimmberechtigten unterzeichneten im Frühjahr 1926 in wenigen Tagen das Volksbegehren.
Doch am Abstimmungssonntag, dem 20. Juni 1926, liessen sich die Fürsten eine Finte einfallen, um das populäre Anliegen zu Fall zu bringen. Im Umfeld der Abstimmungs-lokale stellten sie unzählige Bierzelte auf und gaben Gratisbier ab. Hunderttausende der verarmten und teilweise einkommenslosen Bauern, Handwerker und Arbeiter liessen sich dieses Angebot nicht entgehen, frönten der kostenlosen Tranksame aber so sehr, dass sie nicht mehr in der Lage waren, den Weg an die Urne fortzusetzen.
Genau dies wollten die Fürstenfreunde mit ihrem Gratisbier erreichen. Denn argumentativ hatten sie keine Chance, die Not leidenden Bürgerinnen und Bürger von einem Nein zu überzeugen. Da war es einfacher, die Chancen zu packen, welche das Weimarer Abstimmungsverfahren Reformgegnern immer bot. Denn dieses verlangte, dass für rechtsgültige Verfassungsrevisionen 50 Prozent der Stimmberechtigten sich an der Abstimmung haben beteiligen müssen. Zwar stimmten im Juni 1926 vierzehneinhalb Millionen Deutsche für die Fürstenenteignung und nur etwas mehr als eine halbe Million dagegen – doch zu viele waren zuvor in den Bierzelten hängen geblieben, so dass nur noch 39,3 Prozent der Stimmberechtigten sich beteiligt hatten – zehn Prozent zu wenig! Das sogenannte Fürstenbegehren wurde verworfen, obwohl 96 % der Stimmenden ihm zugestimmt hatten!
Solch schlechte Erfahrungen mit Beteiligungs-Quoren hinderte das italienische Parlament anfangs der 1970er Jahre nicht daran, sie seinerseits für alle Volksabstimmungen vorzusehen, zu denen italienische Bürgerinnen und Bürger mittels obligatorischen Verfassungsreferenden, Parlamentsplebisziten oder fakultativen, negativen Gesetzesreferenden eingeladen sein können. Darunter sind Volksbegehren zu verstehen, welche bestehende Gesetze ändern wollen. Das führte in den 1990er und 2000er Jahren immer wieder dazu, dass Berlusconi-Regierungen sich im Vorfeld von Volksabstimmungen über populäre Referenden der öffentlichen Diskussion verweigerten und so dazu beitrugen, dass viele Italiener gar nicht merkten, dass ein Volksentscheid anstand, ihn folglich verpassten und die Kritiker zwar die Mehrheit der Stimmenden gewannen, doch das Quorum verpassten, die Abstimmung somit verloren und manche sinnvolle Reform abgelehnt wurde. Silvios Slogan lautete jeweils: «Bleibt zu Hause, so gewinnen wir!»
Eine solche dysfunktionale Regel hätte im Fussball zur Folge, dass einer, der mit einem Foul seinen Kontrahenten regelwidrig am Spiel hindert, zu Fall bringt oder gar verletzt, mit einem Tor belohnt, statt mit der gelben oder roten Karte bestraft würde. In einer auf Engagement und Diskussion angelegten Direkten Demokratie darf Passivität oder Indifferenz nicht bevorteilt werden. Jene, die sich nicht interessieren und sich weiter nicht um das Gemeinwohl kümmern, dürfen nicht mittels eines schlagseitigen Entscheidungsverfahrens die Engagierten, Beteiligten und Aktiven ausbremsen oder in die Leere laufen lassen können.
Dies gilt auch für sogenannte Zustimmungs-Quoren, wie sie in manchen deutschen Bundesländern in Kraft sind. So werden in Bremen Volksentscheide über Gesetzesänderungen nur rechtskräftig, wenn die zustimmende Mehrheit grösser ist als zwanzig Prozent der Stimmberechtigten – bei Verfassungsänderungen muss sie sogar grösser als vierzig Prozent der Stimmberechtigten sein, was ein kaltes Beteiligungsquorum von über 80 % der Stimmberechtigten bedeutet – ein Wert, der in der Schweiz in neuerer Zeit nicht ein einziges Mal erreicht wurde!
Solche qualifizierenden Mehrheiten disqualifizieren die Direkte Demokratie und haben deshalb in entsprechenden Reformprogrammen nichts zu suchen. Das gleiche gilt auch für den Vorschlag, Gepflogenheiten der indirekten, parlamentarischen Demokratie auf die direkte Demokratie zu übertragen. In parlamentarischen Versammlungen mag es Sinn machen, zur Vermeidung von nichtrepräsentativen Zufalls-Mehrheiten in ganz wichtigen Verfassungsfragen beispielsweise Zweidrittelmehrheiten zu verlangen.
Das gleiche in Volksabstimmungen zu tun wäre freilich doppelt falsch. Einerseits kann sich das Volk nicht selber repräsentieren; es ist und bleibt das Volk, beziehungsweise es sind die, welche abstimmen gehen und sich beteiligen, die entscheiden. Zweitens erhält beim Erfordernis eines Zweidrittelmehrs das oppositionelle Drittel mehr Gewicht als die zustimmenden zwei Drittel. Es verletzt eines der Grundprinzipien der Demokratie, nämlich die Gleichwertigkeit jedes einzelnen Teilnehmenden. Oder in den schönen Worten des Rostocker Professors Egon Flaig: «Das Prinzip, mehrheitlich zu beschliessen, macht alle Teilnehmer auf radikalste Weise zu Gleichen.» Flaig erinnert an den Satz, mit dem schon der griechische Geschichtsschreiber Herodot (490- 424 vor C.) vor 2442 Jahren, die Mehrheitsregel begründet hat, mit der nicht die Wahrheit, sondern der Wille der Gemeinschaft eruiert werden solle: «Beim Mehr liegt das Ganze».
Kontakt mit Andreas Gross
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