29. Mai 2015

TagesWoche

XV. Demokratie-Kolumne

Wege und Wirkungen einer Volksinitiative


Eine Volksinitiative ist ein Antrag in Form einer Frage. Einer Frage aus dem Volk an das Volk, mit dem Anspruch auf eine Antwort in Form des Ergebnisses einer Volksabstimmung. Wer diesen Pro­zess optimieren will, muss sorgfältig prüfen, ob seine Vorschlä­ge nicht zu Verschlimmbesserungen verkommen. So würde der Vor­schlag der Professorin Epinay, inskünftig nur noch Volksinitia­ti­ven in Form der allgemeinen Anregung vorzusehen, auf eine Do­mestizierung der Volksinitiative durch das Parlament hinaus­lau­fen und nur mehr die verschwindende Minderheit der InitiantInnen berücksichtigen, die dem Parlament vertrauen.

In der laufenden Diskussion um die Reform der Volksrechte werden auch Vorschläge geäussert, welche die Stellung des Parlamentes im Prozess einer Volksinitiative aufwerten wollen. Diese Vorschläge zielen auf eine Domestizierung der Volksinitiative und zu einer Gewichtsver­la­ge­rung zugunsten des Parlamentes, was den Kern der direkten Demo­kra­tie nicht stärkt, sondern bedroht. Um dies zu begreifen, hilft ein ge­nauer Blick auf die gegenwärtige und sehr sachdienliche Interaktion zwischen direkter und indirekter Demokratie.

In der Schweiz spielt die direkte mit der indirekten Demokratie zu­sam­men; anders als in den US-Bundesstaaten, wo sie sich fast feindlich gegenüberstehen. Das tut der Sache und damit allen Bürgerinnen und Bürgern gut. Denn eine Volksinitiative geht nicht einfach am Parlament vorbei oder darüber hinweg, sondern wendet sich durch das Bundes­haus hindurch via Bundesrat und Parlament an alle Stimm­be­rech­tig­ten.

So werden die notwendigen Unterschriften nicht in einer Art Volks­kanz­lei, sondern in der Bundeskanzlei abgegeben, gewissermassen das Sekretariat des Bundesrates und der Bundesverwaltung. Diese prüft, ob die betreffende Volksinitiative rechtmässig zustande gekommen ist, und reicht sie dann weiter an das zuständige Departement, welches das Anliegen aus allen möglichen Blickwinkeln ausleuchtet und be­ur­teilt.

Der Bundesrat diskutiert das Volksbegehren und stellt der Bundesver­samm­lung einen Antrag, ob es dem Volk Zustimmung oder Ablehnung empfehlen oder einen Gegenvorschlag zur Volksinitiative vorlegen wol­le. Das dauert meist etwa ein Jahr. Etwas mehr als ein weiteres Jahr nehmen die parlamentarischen Beratungen in Anspruch. National- und Ständerat setzen sich in ihren Kommissionen und Sessionen insge­samt gegen zehn Stunden lang mit dem Inhalt der Volksinitiative auseinan­der, meist nach Anhörung von Vertretern des Initiativkomitees, betroffenen Interessengruppen und wissenschaftlichen Experten.

Entscheidend ist, dass die Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht abschliessend über eine eidgenössische Volksinitiative zur Än­derung der Bundesverfassung entscheiden dürfen. Ihre Aufgabe ist das erste öffentliche Nachdenken und die Beratung der Initiative gleichsam auch zur Einstimmung der interessierten Bürgerschaft auf die Sache sowie eine Empfehlung an die Stimmberechtigten.

Dabei hat die Bundesversammlung für den Fall, dass sie mehrheitlich das von der Initiative aufgeworfene Anliegen teilt, es anders aber glaubt besser umsetzen zu können, die Möglichkeit, den Stimmberechtigten einen direkten oder indirekten Gegenvorschlag zu unterbreiten. Im Falle eines direkten Gegenvorschlags kommt dieser zusammen mit der Initia­ti­ve zur Abstimmung, die Stimmenden haben dann also die Auswahl zwischen drei Optionen: Status quo, Änderung der Verfassung im Sinne der Initiative oder Verfassungsänderung im Sinne der Mehrheit der Bundesversammlung. Seit 1987 können die Reformer unter den Stimmenden in einer Stichfrage auch ihre Präferenzen zum Ausdruck bringen.

Von einem indirekten Gegenvorschlag ist dann die Rede, wenn die Mehrheit der Bundesversammlung meint, dem Anliegen der Initianten könne auch ohne Revision der Bundesverfassung entsprochen werden; die Änderung eines Gesetzes sei ausreichend. Die Initianten können in diesem Fall auf einer Volksabstimmung über ihre Initiative bestehen oder mit dem Rückzug ihrer Initiative warten, bis eine möglicherweise durch ein Gesetzesreferendum ausgelöste Volksabstimmung über den indirekten Gegenvorschlag positiv ausgegangen ist.

Dieses mittlerweile fein austarierte vielgleisige Zusammenspiel zwi­schen den Akteuren der indirekten und der direkten Demokratie leistet einiges und ist die Zeit wert, die es in Anspruch nimmt. Es integriert nicht nur das offene System, erhöht die Intensität und die Reichweite der Diskussion und gibt dem Allgemeinwohl mehr Chancen, sondern erhöht auch die Einflussmöglichkeiten der Initianten. Deren vollumfäng­li­che Erfolgschancen, das heisst der Gewinn einer Mehrheit der Stim­men­den und der Stände bei einer Volksabstimmung, liegen bei nur etwa zehn Prozent.

40 Mal sind den 180 seit 1980 zustande gekommenen Volksinitiativen von der Bundesversammlung direkte Gegenvorschläge mitgegeben worden, worauf 26 Initiativen zurückgezogen und sechs weitere in der Volksabstimmung von einer Mehrheit der Stimmenden und der Stände angenommen wurden. Berücksichtigt man auch die indirekten Gegen­vor­schläge, so lässt sich sagen, dass dank diesem Zusammen­spiel fast die Hälfte der Initiativen in ihrem Sinne die Gesetzgebung und die Le­bens­wirklichkeit in der Schweiz beeinflussen können.

Den meisten Volksinitiativen liegt eine Kritik am Parlament zugrunde. Sie monieren, dass das Parlament es vergessen, verdrängt oder sonst unterlassen habe, ein Problem so wie sie es für richtig halten anzu­ge­hen. Hätten die Initianten Vertrauen ins Parlament, dann würden sie auf den mühsamen Weg der Volksinitiative verzichten und einen Parla­men­ta­ri­er von einem entsprechenden Vorstoss überzeugen.

Deshalb wird die an sich auch mögliche direktdemokratische Hand­lungs­op­tion, die Volksinitiative in Form der allgemeinen Anregung und der Hoffnung, das Parlament würde dann schon den richtigen Weg zur Realisierung dieses Anliegens finden, nur ganz selten ergriffen; von den über 300 seit 1891 lancierten Volksbegehren hatten nur elf die Form der allgemeinen Anregung, wovon wiederum nur vier zur Volks­abstimmung kamen, die letzte von ihnen 1976!

Deshalb widerspricht der Reformvorschlag der Fribourger Professorin und designierten Rektorin Astrid Epiney, inskünftig nur noch Volks­ini­tia­ti­ven in Form der allgemeinen Anregung vorzusehen und deren Schick­sal dem Parlament zu überlassen, völlig der direktdemokratischen Kul­tur, wie sie sich in den letzten 100 Jahren entwickelt und nach An­sicht der meisten Kenner bewährt hat. Epineys Vorschlag würde auf eine Domestizierung der Volksinitiative durch das Parlament hinauslaufen, welche nur noch jenen engagierten Bürgerinnen und Bürgern ent­spre­chen würde, die dem Parlament vertrauen – doch dies sind genau nicht jene, die seit 124 Jahren 98 Prozent der Volksinitiativen verantwortet haben.


Kontakt mit Andreas Gross



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