20. April 2015

Zum Gedenken an Martin Bühler (1954 - 2015)
Ein Freiheitskämpfer und politischer Unternehmer, der uns fehlen wird


Ein Nichts brachte uns zusammen. Respektive etwas, das leider zu viele Schweizerinnen und Schweizer immer noch für ein Nichts halten: Die Utopie.

1986 widmete sich die Sozialdemokratische Partei (SP) des Kantons Zürich in Winterthur an einem Workshop für Sympathisanten diesem für sie existenziellen Thema: Was wäre möglich in unserer Gesellschaft und im Interesse der Allermeisten, ist aber nicht, auch weil sich zu Wenige bisher darum gekümmert haben? Was müssen wir tun, damit mehr Menschen ihren Ort in der Gesellschaft finden, an dem sie sich entfalten können und ihre Fähigkeiten und Neigungen für und mit den Anderen verwirklichen können? Wie lässt sich ausloten in unserer Zeit, was an besseren Alternativen schlummert, jedoch unseres gemeinsa­men Handelns bedarf, um es Wirklichkeit werden zu lassen?

Das waren Fragen, die den heute leider viel zu früh verstorbenen Bülacher Martin Bühler (1954-2015) packten, umtrieben, zu intel­lektuellen wie sozialen Höchstleistungen trieben und mit neuer Kraft im Alltag wirken liessen.

1986: Die erste UNO-Volksabstimmung ging verloren; die Unter­schrif­ten für eine andere vermeintliche Utopie, die Schweiz ohne Armee, waren jedoch zusammen gebracht worden. Gerade weil so viele Landsleute die Schweiz ohne Armee als «utopisch» empfanden, liess sich am Umgang mit dieser Idee die Beziehung der Schweiz zur Utopie und ihre Bedeutung exemplarisch aufzeigen und diskutieren. Die Utopie verdankt ihre Bedeutung und ihren Namen einem 1515 erschienenen Buch von einem Theologen über einen schiffbrüchigen Seefahrer, der wieder heimgekehrt war vom Ende der Welt, wo er eine Insel und dort ein anderes, besseres Leben entdeckt hatte. So ist die Utopie eben mehr als ein Nichts. Sie ist die Kritik am Jetzt und der Bezug auf Möglichkeiten, deren Realisierung von den Menschen abhängen. Deshalb ist es so wichtig, dass sich die Menschen mit diesen echten oder nur vermeintlichen Möglichkeiten auseinandersetzen, sie voneinander unterscheiden lernen und sich motivieren, sich auf die die Suche nach der Spur der wirklich besseren Möglichkeiten zu machen. Im Wissen, nie das zu finden, was man sucht, jedoch im Suchen dem Gesuchten näher zu kommen, das heisst, das Drückende abzubauen und das Bessere zu entwickeln. Wobei die Mittel des Handelns immer die Qualität des Ziels aufscheinen lassen müssen; man kann also nicht auf unmenschliche Art eine menschlichere Zukunft erkämpfen.

Martin muss in seiner ersten Lebenshälfte dieses Denken geahnt haben. Er versuchte es als reformorientierter Lehrer im Geiste des revolutionären Pestalozzi umzusetzen. Er war 13 Jahre lang Sekun­darlehrer und engagierte sich in Stadel im Interesse der Schülerinnen und Schüler für entsprechende Reformen. In seiner zweiten Halbzeit vertieften wir uns gemeinsam in dieses Denken und versuchten auch lebensweltlich daraus Konsequenzen zu ziehen. Beruflich hiess dies für Martin, sich von den manchmal sehr schwierigen Strukturen des staatlichen Lehrerseins zu befreien und selbständig zu werden. Ab 1991 als Erwachsenenbildner, ab 1995 als Mitbegründer der IBBK engagierte er sich zugunsten Arbeitsloser und als Organisations-Berater. Es ging ihm darum, Menschen zu helfen, wieder Boden unter die Füsse zu bekommen, sich von erdrückendem Ballast zu befreien und sich in die Lage zu bringen, den Platz in der Gesellschaft zu finden, an dem sie ihre Neigungen und Fähigkeiten entfalten und davon erst noch leben können.

Auch gesellschaftspolitisch vermochte Martin unglaubliche Energien freizusetzen. Zuerst trug er sehr viel dazu bei, um im November 1989 die Volksabstimmung über die Schweiz ohne Armee zu einer der erfolgreichsten Niederlagen in der Geschichte der Direkten Demokratie der Schweiz zu machen. Beispielsweise indem er unseren Verlag Realotopia managte – der bereits in seinem Namen versuchte zu zeigen, dass die Wirklichkeit der Utopie bedarf – und dort eine neue Reihe eröffnete, in der engagierte Menschen, vor allem Frauen wie Selma Gessner und Frieda Meier, ihr engagiertes Leben erzählen konnten.

In den 1990er Jahren war Martin an allen grossen politischen Unter­neh­mungen beteiligt, zu denen wir, getragen von der fast zehnjährigen Erfahrung der GSoA, zu neuen Ufern aufbrachen. Nicht nur 1992 und 1993 mit der grössten Referendumsinitiativen-Unterschriftensammlung gegen die Beschaffung des FA/18-Kampfflugzeuges (noch nie waren innert zwei Monaten 500'000 Unterschriften gesammelt worden) oder 1997 bis 2002 mit der auch mathematisch erfolgreichen Volksinitiative zum UNO-Beitritt der Schweiz , sondern vor allem 1992 bei der Gründung von eurotopia, der europäischen Bürgerbewegung für eine europäische Verfassung mit direktdemokratischen Elementen. Wir versuchten die direktdemokratischen Voraussetzungen zu schaffen, damit auch auf europäischer Ebene Menschen sich für ihre Anliegen Gehör verschaffen können. Damals auch eine Utopie – wie im Namen eingestanden – heute aber bereits teilweise Realität, mit der 2010 im Lissabonner EU-Vertrag verankerten Europäischen Bürger-Initiative, mit der 1 Million Europäer der Kommission in Brüssel jederzeit ein Anliegen verbindlich unterbreiten können. Und nach inzwischen dreijähriger Praxis wurde dieses Instrument von der EU-Kommission nun als wichtiges und zu stärkendes Element der Europäischen Demokratie.

1995 und 1996 war Martin Bühler übrigens auch an der Herausgabe von zwei wegweisenden Büchern des Realotopia-Verlages beteiligt: 1995, als im Sammelband «Heile Welt Schweiz» in Gesprächen mit vielen SVP-Grössen deren Identität erstmals als «nationalkonservativ» bezeichnet wurde. 1996, mit dem Sammelband zur These wonach die «Demokratie mehr Europa und Europa mehr Demokratie» brauchen, in dessen Titel ein mittlerweile ebenfalls geläufig gewordener Begriff erstmals auftauchte, die «transnationale Demokratie». 2005 wurde Martin Bühler Generalsekretär der wissenschaftlichen Nachfolgeorga­ni­sa­tion von eurotopia, des IRIE (Europäisches Institut für Initiative und Referendum), mit dem wir nicht nur die Grundsatzdiskussion um die Direkte Demokratie, sondern entsprechende konkrete Bemühungen vieler Menschen in Europa unterstützten und sachlich förderten – Martin kümmerte sich vor allem um Spanien und Katalonien sowie Deutschland.

Zu all diesen Themen – Utopie, Demokratie, Europa – organisierten Martin und ich zwischen Rhein und Limmat, zwischen Bachs im Unter- (im dortigen Neuhof bewährte sich Martin auch als erfolgreicher Gastro-Mitunternehmer) und Pfäffikon im Oberland, unzählige Workshops und Kurse. Und auch in denen reflektierten und stärkten wir unsere histo­ri­schen Wurzeln: Die Demokratische Bewegung im Kanton Zürich von 1865 bis 1869, welcher gegen die liberalen Gründer der modernen Schweiz und deren System Escher die damals direktdemokratischste Verfassung der Welt gelang. Dabei entdeckten wir im Bülacher Demo­kraten Johann Jakob Scheuchzer so etwas wie einen Vorläufer von Martin!

Daran wollten wir anknüpfen, als der Zürcher Kantonsrat 1998 be­schloss, dem Zürcher Volk die Totalrevision dieser 1869er Verfas­sung vorzulegen. Wir sagten Ja, wollten aber keine Schmälerung, sondern eine Verfeinerung und Stärkung der Direkten Demokratie. So gründete Martin den «Demokratischen Verein» im Zürcher Unterland. Wir orga­ni­sierten zahlreiche Podiumsgespräche, unterstützten die Senkung der für die Durchsetzung der Volksrechte notwendigen Unterschriften­zah­len und Neuerungen wie das Konstruktive Referendum. Dabei reali­sier­ten wir ein weiteres Grundanliegen von Martin. Es muss immer auch die Verständigung mit den Andersdenkenden gesucht werden, wir müssen uns mit ihnen wirklich auseinandersetzen und so versuchen, einen Vorschein der Wahrheit auch im Diskurs des Anderen zu finden, um damit unsere eigene Position umso umsichtiger vertreten zu kön­nen. So brachten wir den SVP-Nationalrat und AUNS-Präsidenten Pirmin Schwander zum Thema Europa ebenso nach Bülach wie den Zürcher FDP-Präsidenten Beat Walti zur Zukunft der Demokratie.

An einem seiner letzten öffentlichen Auftritte in Bülach bezeichnete sich Martin Bühler mit recht als «Kultur- und Demokratie-Politiker». Sein ganzes vielfältiges politisches Engagement in Wort und Schrift, Refle­xion und Tat, galt in den letzten fast 30 Jahren der Befreiung der Men­schen aus Fesseln, die sie lähmen und beschränken. Nicht, um die Menschen rücksichtslos zu machen gegenüber den anderen, sondern im Gegenteil, um ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, an dem sie nicht nur sich selber finden kön­nen, sondern auch ihren Mitmenschen und der Umwelt optimal dienen können.

Dabei war Martin ein – um ein weiteres hierzulande eher missver­stan­de­nes Wort zu verwenden – echter Unternehmer. Er unternahm un­glaublich viel, schaffte Neues, um immer wieder neuen Menschen den Aufbruch zu neuen Ufern zu ermöglichen. Seine Unternehmungen werden ihn überleben. Natürlich wird er uns noch lange fehlen. Doch alle, die mit ihm wirkten, werden dies weiter tun und dabei Martins Erbe lebendig erhalten und dadurch ihn und seine Werke am angemessensten ehren.

So schrieb Martin Bühler vor vier Jahren in einem Büchlein: «Die Ver­höh­nung der Menschenrechte erschüttert die demokratische Schweiz genau so wie die verbale Verachtung und Abwertung aller Gegnerinnen und Gegner. (...) Dagegen hilft nur die öffentliche Debatte über grund­le­gende Werte und eine neue Utopie der Linken, die sich als etwas Neu­es und etwas Eigenes entwickeln müssen und die im Heute angelegt sind. Eröffnen wir diese Debatte jetzt, jemand anderer tut es nicht.»


Kontakt mit Andreas Gross



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