20. Feb. 2015
TagesWoche, Basel
VIII. Demokratie-Kolumne
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Lernen als Baustein der Demokratie
Zur Verbesserung unserer Demokratie könnten wir von den Erfahrungen Anderer viel lernen: -- 70 % der beinahe 317 Millionen US-Amerikaner leben in einem der 27 Bundesstaaten oder in einer Grossstadt, in denen ihnen direktdemokratische Rechte zur Verfügung stehen. Zwar fehlt den US-Bürgerinnen und Bürgern wie in der Schweiz die Direkte Demokratie auf der Bundesebene und auch ihrer Demokratie geht es derzeit nicht besonders gut, doch sie haben so viele Erfahrungen mit den Volksrechten wie sonst niemand auf der Welt. Davon könnten auch die Schweizerinnen und Schweizer lernen, so wie die US-Bürgerinnen und Bürger von der Schweiz lernten, als sie vor 100 Jahren die Erweiterung der Demokratie um direktdemokratische Elemente erkämpft haben.
Der Zürcher Handwerker Rolf Bosshard staunte nicht wenig, als er im Herbst 1893 in Portland ankam, der Stadt im Staate Oregon, in der Nordwest-Ecke der USA. Zuerst war er limmat- und rheinabwärts nach Rotterdam gefahren. Dann während dreier Wochen fuhr er mit dem Dampfschiff über den Atlantik nach New York. Der anstrengendste Teil seiner Reise um die halbe Welt waren aber die über 3000 km mit der Dampfeisenbahn und einigen Pferdekutschen über Chicago nach San Francisco und dann durch Nordkalifornien nach Portland, der grössten Stadt des Bundesstaates Oregon 100 Kilometer von der Küste des Stillen Ozeans entfernt.
Doch Bosshard staunte nicht dieser damals abenteuerlichen Reise wegen oder darob, dass er diese im Unterschied zu Hunderten von anderen Auswandern unbeschadet überlebt hatte. Was Bosshard zum Staunen brachte, waren die politischen Verhältnisse in Oregon. Sie glichen jenen, die Zürich 25 Jahre zuvor mit einer kleinen demokratischen Revolution überwunden hatte. Und was Bosshard vollends aus dem Häuschen brachte: In Oregon kursierte unter den engagierten Handwerkern und Arbeitern die Broschüre eines New Yorker Journalisten namens John Sullivan, der wenige Jahre zuvor in Zürich gewesen war und nun in seiner Borschüre die Zürcher Errungenschaften, umfassende Volksrechte, den Oregonians als Medizin gegen die korrupten politischen Eliten empfahl.
Wie weiland in Zürich Alfred Escher herrschten Ende der 1890er Jahre auch in Oregon die Eisenbahnbarone über die beiden Parlamentskammern. Sie liessen sich gegen Hunderttausende von Dollars die Gesetze so schreiben und verabschieden, wie es ihren Geschäftsinteressen am besten entsprach. So dass sie billig Land und Eisenbahnbaukonzessionen kaufen konnten, Arbeiter ungeschützt und unterbezahlt die Eisenbahnlinien bauen lassen und gleichzeitig jeglichen Widerstand gegen die Einfuhr von günstigen Landwirtschaftserzeugnissen gesetzlich unterbinden konnten. Gegen diese Herrschaft und gegen diese Herrschaften wehrten sich immer mehr Bauern, Handwerker und Arbeiter Oregons, deren Sorgen das alte Parlament einfach in den Wind schlug. Es gelang diesem Populist-Movement nach mehreren vergeblichen Anläufen 1902, die Verfassung Oregons so zu revidieren, dass nun gegen parlamentarisch verabschiedete Gesetze das Referendum ergriffen und neue Gesetzesrevisionen mittels Volksinitiativen zur Volksabstimmung gebracht werden konnten.
Von diesen neuen Volksrechten, bald landesweit als Oregon-system bekannt, wurde in Oregon sofort rege Gebrauch gemacht. Nicht nur wurde die Herrschaft der Eisenbahnbarone ausgehebelt. Sondern ausgesprochen progressive Volksmehrheiten kamen zustande, so dass 1914 in Oregon wie zuvor schon in Colorado mittels der Direkten Demokratie das Frauenstimm- und Wahlrecht eingeführt, die Todesstrafe abgeschafft und der Arbeitstag für alle Arbeiterinnen und Arbeiter auf 8 Stunden täglich gesetzlich begrenzt werden konnte. Die Idee der Volksrechte zur Demokratisierung der parlamentarischen, aber von den Wirtschaftsbossen gelenkten Demokratie war so überzeugend, dass sie bis zum 1. Weltkrieg nicht nur im Nachbarstaat Kalifornien sondern in über 15 US-Bundestaaten durchgesetzt werden konnte. Heute leben 70 % aller US-Bürgerinnen und Bürger in einem der 27 Bundesstaaten mit mehr oder ausgebauter Direkter Demokratie. Oregon, in dem heute fast vier Millionen Menschen leben, und der grösste US-Bundesstaat, Kalifornien, mit 37 Millionen Einwohnern, gehören zu jenen Bundessaaten mit der intensivsten Direkten Demokratie. So wurde in Kalifornien bis 2010 über insgesamt 400 Gesetzes- und Verfassungsinitiativen abgestimmt, in Oregon im gleichen Zeitraum über etwa 350.
Dabei, so meint heute der Enkel von Rolf Bosshard, der sich immer wieder auch über den Gebrauch der Direkten Demokratie in der Schweiz informiert und diese mit seinen eigenen Beobachtungen an der US-Westküste vergleicht, sind sowohl die Parallelen wie auch die Unterschiede frappant. Beliebt und intensiv gebraucht werden die Volksrechte hier wie dort und zwar von allen politischen Seiten. Niemand möchte sie missen; alle haben freilich auch Kritik und sparen nicht mit Reformvorschlägen. Dabei, meint der Enkel Sebastian Bosshard, ist freilich erstaunlich, wie wenig die Architekten der beiden Systeme an der US-Westküste und in der Schweiz voneinander wissen und nicht merken, dass die Stärken der Einen jeweils zu den Schwächen der Anderen zählen.
Beide könnten die Qualität ihrer Direkten Demokratie massiv steigern, wenn sie sich mehr austauschen und ihre Stärken jeweils importieren und exportieren würden. So fehlt beispielsweise die Zeit, welche in der Schweiz den Unterschriftensammlern, der Verwaltung und den Parlamentariern bei Volksinitiativen gewährt wird, den Kalifornien und Oregoniern mit dem Ergebnis, dass fast keine Kompromisse und Teilerfolge zustande kommen. Auf der anderen Seite könnte sich die Direkte Demokratie in der Schweiz vom Vorwurf der Kolonialisierung durch das Geld befreien, wenn sie die Transparenzgebote Kaliforniens übernehmen würde. So müssen Unterschiftensammler in Kalifornien auf Ansteckknöpfen deutlich machen, von wem sie bezahlt werden, der Staatssekretär muss auf dem Internet vor Volksabstimmungen die Namen und den Umfang der Beiträge der zehn grössten Sponsoren der Ja- beziehungsweise der Nein-Seite nennen und täglich aufdatieren. Und auch das Abstimmungsbüchlein, das in San Francisco dreisprachig erscheint (englisch, spanisch und chinesisch) und oft mehr als 100 Seiten umfasst, nennt bei jeder Vorlage die Namen der wichtigsten befürwortenden und gegnerischen Organisationen.
«Nobody is perfect» meint Sebastian Bosshard bei seinem Besuch in der Schweiz auf den Spuren seines Grossvaters. Er meint, die Demokratie sei doch immer unvollendet und ein ewiger Prozess und fragt, weshalb wir denn immer noch so wenig voneinander wissen und weshalb wir nicht lernen, was wir zum Abbau der eigenen Schwächen von den Anderen übernehmen könnten …
… und es war ein Leichtes, uns auf zehn von den Erfahrungen in den USA abgeleiteten Reformen zu einigen, die uns in der Schweiz gut tun würden und ebenso leicht fanden wir zehn Verbesserungen für die Direkte Demokratie Oregons und Kaliforniens, für die sich die Amerikaner von der Schweiz inspirieren lassen könnten.
Kontakt mit Andreas Gross
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