8. Januar 2015

TagesWoche

Die verlorene Heimat der Demokratie


Der gewichtigste Baustein der Demokratie ist in den vergangenen Jahrzehnten stark ins Rutschen geraten. Bis die Demokratie ihre Güte wieder entfalten kann, müssen wir erst einen neuen Ort für sie finden.

Von Andreas Gross

Der bisher für jede Demokratie zentrale, gewichtigste Baustein ist der Staat. Sei dies ein Nationalstaat wie Frankreich oder ein «Multinational-Staat» wie die Schweiz. Dieser Baustein ist in den letzten Jahrzehnten am meisten ins Rutschen geraten und die Bedeutung des Staates, der in und für die Demokratie zentralen Einheit, ist immer relativer geworden. Die Demokratie indes hat keinen neuen Ort gefunden, an dem und mit dem sie das Primat der Politik gegenüber dem Markt und der Ökonomie verteidigen konnte.

Etwa dreihundert Jahre lang bildete der Staat in unterschiedlichen Formen und Festigkeiten den zentralen Lebensraum, vor allem der Europäerinnen und Europäer. Die politische, weltliche Macht in diesem Staat konzentrierte sich beim «Souverän». Lange Zeit und in den meisten Staaten waren dies die Könige, Kaiser oder Fürsten. Sie herrschten in den Staaten.

Aufschwung der Vielen

In den meisten nationalen Revolutionen von 1789, 1830, 1848, 1918 und nach 1945 hat sich das Volk zum «Souverän im Staat» gemacht: Die Vielen traten an die Stelle des Einzigen und der Wenigen. Die «Volkssouveränität» – vom Aufklärer Jean-Jacques Rousseau 1762 in seinem berühmten «contrat social» (Gesellschaftsvertrag) entwickelt und vorweggenommen – wurde in der Demokratie zur einzigen Quelle legitimer, politischer Macht im Staat. In ihrer Verfassung, wie der entsprechende «contrat social» nun hiess, vereinbarten diese Vielen (erst der Männer, später auch der Frauen), wie sie ihre Macht organisieren wollten, das heisst, welche Institutionen aus dieser Quelle der Volkssouveränität in welcher Art gespeist werden sollten.

Zwar existierten auch innerhalb dieser staatlichen Macht andere Ordnungssysteme – zum Beispiel die kapitalistisch organisierte Wirtschaft, die mit ihr nicht ganz identisch waren. Doch die Wirtschaft war trotz der schon sehr früh bestehenden transnationalen Märkte im Wesentlichen immer noch eine «Volkswirtschaft». Das heisst auch, ihr wesentlicher Raum war der Staat. Und so funktionierte sie nach dessen Regeln, also nach den «im Namen des Volkes, dem Souverän», beschlossenen Gesetzen und Verordnungen. Das Primat der Politik galt, der entscheidende Anspruch der Demokratie für die Verwirklichung der Freiheit eines jeden und einer jeder, unabhängig von Geburt, Stand, Besitz oder Einkommen.

In den 1970er-Jahren geriet diese schon immer prekäre Prioritätenordnung ins Rutschen. Über die Gründe lassen sich Bücher schreiben; eines der aufschlussreichsten ist vor bald zwanzig Jahren von Hans-Peter Martin und Harald Schumann verfasst worden und trägt den Titel «Die Globalisierungsfalle». Der demokratiepolitisch relevante Effekt war klar: Der Staat und sein Souverän wurden mehr und mehr entmachtet. Die entscheidende Ordnungsmacht war nicht mehr der Staat und seine demokratische Politik, sondern der transnationale, globale Markt. Die Staaten vermochten die Märkte nicht mehr einzuhegen und deren Folgen zu zivilisieren.

Jetzt galt es anders herum: Die Märkte betteten die Staaten ein. Jetzt gaben die Global Players den Staaten die Regeln vor. Effizienz, Wettbewerb, Rendite ersetzten Gemeinwohl, Gleichwertigkeit und Rücksichtnahme. Mit den Worten des deutschen Soziologen Wolfgang Streeck bestand die Rolle der Politik nun darin, «das Handeln so umfassend wie möglich ökonomischen Gesetzen zu unterwerfen und die soziale Ordnung (und «das Recht», a.g.) laufend an sich ändernde Erfordernisse des wirtschaftlichen Wettbewerbs und gelingender Kapitalakkumulation anzupassen.»

Zu schwach für das Wesentliche

Was gut und richtig ist und vor allem, was uns allen gut tun würde, war jetzt nicht mehr an den Bürgerinnen und Bürger eines Staaten zu entscheiden, sondern Sache des sozial und ökologisch blinden transnationalen Marktes. Die Demokratie hatte ihren Raum, ihren Ort, verloren. Zwar gilt sie immer noch in den Staaten für beschränkte Bereiche. Doch wenn die Staaten auf das Wesentliche, die Früchte und Gestalt unserer Arbeit, keinen entscheidenden Einfluss mehr haben und die Demokratie immer noch an den Staatsgrenzen aufhört, dann ist sie entmachtet. So wie der Staat zu klein wurde für das Grosse, wurde die Demokratie zu schwach für das Wesentliche. So wie in einer Telefonkabine kein schöner Fussball gespielt werden kann, kann die Demokratie ihre Güte heute in keinem Staat mehr entfalten.

Das muss freilich nicht das «Ende der Demokratie» bedeuten. Auch nicht, dass die real existierende Demokratie nur noch zur simulierten «Postdemokratie» verkommen muss. Der Anspruch der Demokratie, Bedingung für die Freiheit aller zu sein, gilt nicht nur nach wie vor, sondern er ist universeller denn je. Wir müssen uns nur bewusst sein, dass die Demokratie zur Verwirklichung dieses Anspruchs eines neuen, transnationalen, suprastaatlichen Ortes bedarf. Der ist allerdings noch nicht, ist also ein U-Topos, eine Utopie. Wir müssen also noch etwas tun, damit dieser Ort werden kann. So wie heute alles Politische, auf das wir stolz sind, vor 150 Jahren noch mehr oder weniger utopisch war und viele erst noch einiges haben leisten müssen dafür.

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LeserInnen-Kommentare:

H J Martens am 9.01.2015, 20:23
Um die Demokratie zu retten, muss die klassische Gewaltenteilung wesentlich modernisiert und verfeinert werden. Der Strukturwandel in Finanz, Wirtschaft, Politik, Recht, Bildung und Handel hat den Staat als Rahmen der Demokratie massiv geschwächt, denn längst sind diese Institutionen global vernetzt; die geschlossenen, lokalen Konzepte sind in wesentlichen Teilen zu hinterfragen. -- In der Tat lautet die grosse und spannende Frage, in welchem Umfang und in welcher Form die demokratischen Strukturen noch auf den Staat angewiesen sind. Wie können lokale kulturelle Normen, die für unsere Identität wie für unsere Lebensqualität so wichtig sind, gegenüber einer „anything goes“-Antikultur überleben?

Maya Eldorado am 9.01.2015, 20:56
Dieses interaktive Bild mach mich ganz kribbelig! (Bezieht sich auf die Illustration des Online-Artikels in der TaWo – fk).

s chröttli am 10.01.2015, 11:26
führt man die erkenntnisse von hürlimann und gross zusammen: keine verbindliche rechtssprechung in keiner klar benennbaren bezugsgrösse (staat). wie angemahnt: die geschehnisse werden sich gemäss den diversen (freihandels)abkommen primär an wirtschafltichen interessen richten – und von juristen beglaubigt. und «demokratie» ist eine von mehreren autonomen spielbühnen, wo die knallharten vorgaben lokal etwas aufgehübscht werden.

Sullivan Frisch am 10.01.2015, 13:10
Ich weiss nicht, ob ich mich dieser Logik anschliessen kann. Staaten und Staatenbündnisse, welche dem Kapitalismus und der Globalisierung ausgesetzt sind, funktionieren zwar politisch unterschiedlich, jedoch herrschen in all diesen Staaten (Ausgenommen sind Staaten wie Nordkorea, Russland, teilweise China, etc.) mehr oder weniger dieselben kapitalistischen Gesetze. Aufgrund diese kapitalistischen Gesetze des freien Marktes, können Waren und Dienstleistungen einfacher grenzüberschreitend angeboten werden. Diese Strukturen des freien Marktes durchdringen alle Staaten, ähnlich wie Licht das Wasser durchdringt, ohne ihnen Schaden zuzufügen. Staaten oder Staatenbündnisse können den freien Markt jedoch teilweise beeinflussen, in dem Sim Handelshemmnisse aufstellen, oder abbauen, und in dem sie unterschiedliche Besteuerungssysteme innerhalb ihrer Staatsgrenze betreiben. Die Staaten oder Staatenbündnisse haben dabei immer noch die Möglichkeit, eigenständig Änderungen vorzunehmen. Trifft die Politik Entscheide, welche der Bevölkerung das Leben unerträglich machen, erfolgt eine Gegenreaktion, welche korrigierend wirkt. Die Schweiz hier aufgrund der direkten Demokratie privilegiert, denn sie kann schneller mittels Referendum reagieren. Bei indirekten Demokratien dauert das je nach Stärke der Opposition in der Bevölkerung etwas länger. Als perfektes Beispiel wird in den nächsten Jahren das angestrebte Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU dienen. Sollte dieses Abkommen für die Europäische Bevölkerung zu einschneidend sein, wird es kaum eine Chance haben, durchgesetzt zu werden. Aus meiner Sicht wird die Demokratie an solchen Herausforderungen sogar wachsen, und gestärkt und erfolgsbewusst aus der zu erwartenden Auseinandersetzung hervorgehen.

s chröttli am 10.01.2015, 13:26
soweit zum wohlklingenden «verkaufsargument» explizit in den usa gibt’s eine ganze menge an rechtlich nicht durchsetzbarem, obwohl soweit demokratisch verbrieft. Nehmen Sie sich mal die umtriebe rund um fracking vor: sehr anschaulich – und desillusionierend. Die ganzen unerschöpflichen bush-bestände, die ja schon wieder an die tür klopfen, leben gut und gerne mit und vom öl. und alles andere sei nachrangig. ganze (us)staaten sind dagegen völlig macht- und rechtlos.

Sullivan Frisch am 10.01.2015, 14:41
Die Demokratie in den USA funktioniert recht gut. Sie ist aber weniger sozial ausgerichtet, als diejenigen in Europa. Der Markt wird so liberal als möglich gestaltet. Fracking macht die USA zudem Energie unabhängig. Aus Sicht der Amerikaner ist es also eher ein Segen, als ein Fluch, zumal durch Fracking in den USA der CO2 Ausstoss deutlich gesenkt wurde. Die Kohle wird nämlich durch Gas ersetzt. Dass dadurch der Weltmarkt für Rohöl von einem Überangebot überschwemmt wird, ist den Amerikanern weniger wichtig, als die eigene Versorgung. Natürlich müssten auf globaler Ebene Entscheide getroffen werden, die den Klimawandel stoppen. Das ist aber im Moment noch nicht so weit, kommt aber hoffentlich noch. Dann würden die Märkte wieder stärker reguliert. Aber das ist nicht gleich zu setzten mit mehr Demokratie. Ich finde den Artikel von A. Gross interessant, aber meines Erachtens unterlässt er es, das Thema Wechselwirkung zwischen Demokratie und Kapitalismus genauer zu beurteilen, sprich, die Beurteilung ist viel zu kurz gegriffen.

M Cesna am 10.01.2015, 17:23
Dass die Schweiz priviligiert sein soll, bin ich mir nicht so sicher. Diese direkte Demokratie verleitet die Parteien eher dazu, zu spielen, d.h. ohne Verantwortung irgendwelche Ideen zu propagieren. Die Regierung vertraut dann aus meiner Sicht zu stark auf die Abstimmungen und nimmt ihre Führungsaufgabe damit eigentlich recht wenig wahr. Das Deckmäntelchen des Liberalismus könnte eigentlich auch "Let they do" bedeuten, d.h. es besteht durchaus das Risiko der "politischen Verwahrlosung". Eine Regierungsstruktur, die es eher als Profession, denn als Spielerei begreift, könnte durchaus verantwortungsvoller sein. Der hiesige Oberplayboy wäre demnach Herr Blocher & Co. Da fehlt ein "Vater"!

H J Martens am 10.01.2015, 14:41
@Sillivan Frisch: "Trifft die Politik Entscheide, welche der Bevölkerung das Leben unerträglich machen, erfolgt eine Gegenreaktion, welche korrigierend wirkt." Schön wär's! Wenn Sie schon das Thema TAFTA anziehen: (Aus Wiki): "Kritiker führen an, dass derzeitige Standards in den Bereichen Umwelt, Verbraucher, Gesundheit, Arbeit und Soziales als derartige Handelshemmnisse gelten und damit die direkte oder indirekte Aufhebung solcher Standards drohe. Zudem wird die geplante Einführung von Schiedsgerichten kritisiert. Schiedsgerichte sollen im Rahmen der Vertragsbestimmungen zum Investitionsschutz ohne die Möglichkeit einer unabhängigen gerichtlichen Überprüfung über Schadensersatzansprüche von Unternehmen gegen die zukünftigen Vertragsstaaten entscheiden können. Kritiker nennen Beispielfälle aus ähnlichen Abkommen wie NAFTA, bei denen es pro Fall um Summen im Bereich von hunderten Millionen bis einige Milliarden US-Dollar zu Lasten der Steuerzahler geht." -- Wo da Ihr schöner Demokratieprozess noch wirken soll, bleibt mir schleierhaft. Es geht um Haftungsklagen mit Beträgen, die ein Land gar nicht bezahlen kann. Das Paradebeispiel ist zur Zeit die Gentechnik-Debatte - zum Glück noch vor dem Vertragsabschluss. Ob gentechnische Produkte die Gesundheit gefährden, spielt dabei eigentlich keine Rolle. Das Vorsichtsprinzip soll überhaupt abgeschafft werden. - Das Ziel ist klar: Der Staat als Kontrollorgan, als Überwacher und Durchsetzer der Gewaltentrennung soll ausgehebelt werden. Schon die Lissaboner-Verträge haben dies aufgegleist. Und keiner merkt was oder will es merken...

s chröttli am 10.01.2015, 15:26
so ist’s leider – und dramatisch Ihr letzter abschnitt. erklärlich eigentlich nur dadurch, dass sich so einige politiker mittlerweile primär als lobbyisten verstehen (leuchtturm exkanzler D) und erst sekundär als «volksvertreter» – haben halt internalisiert, auf welcher seite vom schnittli d’ comfi ischt. wen junkerts.

H J Martens am 10.01.2015, 15:38
@Chröttki: Eben! - Das liegt aber im System. Im Bundeshaus gehen die Lobbyisten frei ein und aus und verteilen ungehemmt Richtlinien, wie im Parlament und den Kommissionen abzustimmen sei. Als Belohnung winkt dann ein Sitz in einem passenden VR. Ich nenne das Korruption. In Usanien gar muss ein Mr. Nobody bei den Lobbys eine satte Milliarde zusammenbetteln, damit er den Wahlkampf finanzieren kann. Soll mir einer erklären, wie jemand sowas schafft ohne seine Seele dem Teufel zu verkaufen. Dennoch glauben Leute wie Herr Frisch, dass die Demokratie dort funktioniert.

Sullivan Frisch am 10.01.2015, 15:55
Demokratie ist kein Persilschein für Sicherheit. Neue Technologien, neue Abkommen, etc bergen auch Risiken. Wenn die EU mit der USA ein Freihandelsabkommen abschliesst, weil man mehr Vorteile als Nachteile sieht, gibt es eben auch Nachteile. Wenn die Nachteile aber unerträglich sind, wird ein Abkommen nicht unterzeichnet. Sieht man erst im Nachhinein, dass die Nachteile unerträglich sind, kann man wieder am Abkommen Arbeiten, oder das Abkommen künden. Wollen nur einzelne Staaten ein Abkommen nicht annehmen, kann ein einzelner Staat in der EU das Abkommen ablehnen (siehe England). Dass einzelne Bürger in einem Staat darunter leiden können und andere weniger ist auch normal. Man kann auch auswandern. Wie gesagt, Demokratie ist kein Persilschein für Sicherheit und ein ewig andauerndes schönes Leben.

s chröttli am 10.01.2015, 16:05
da neig ich für einmal zur stereotypisierung: typisch us-amerikanische inszenierte naivität. Der glaube versetzt schinz berge – fragt sich nur, was diese kulissenschieberei wem bringt. - runtergebrochen auf bs: ist’s denn jetzt eher selbstironie, sarkasmus, sauglattismus oder doch eher programm, das leitmotiv der regierungsrätlichen mottoparty zu sandy shaw? «puppet on a string»

s chröttli am 10.01.2015, 16:20
@frisch: wer ist Ihr «man»? wessen vorteile – wessen nachteile? humanitas – ach kommen Sie, das ist doch schönrednerei vom feinsten: hochpotente wirtschaftslobby vs dürfig vertretene klitzkleine endverbraucher. merke: noch der letzte bitterarme flüchtling braucht täglich frischwasser – wenn einer wasser besitzt/verkauft: so what.

Sullivan Frisch am 10.01.2015, 16:32
man? Das Wort enthält doch schon, wer man ist. Brauchen Sie Deutsch Unterricht? Der Fortschritt und das Interesse, Neues zu Entwickeln war und ist unaufhaltbar. Was in Zukunft demokratiscch akzeptiert wird, wird die ewigen Angsthasen noch mehr erschrecken!

s chröttli am 10.01.2015, 16:51
die usa haben riesige landstriche mit einer komplett verarmten bäuerlichen bevölkerung. mittelstand: ade. Die schere zwischen arm und reich war wohl noch selten so hoch wie aktuell. Okay, da gibt’s firmen, die zb möglichst viele genhänchen verbraten wollen, oder patentiertes saatgut etc&pipapo. Das ist deren legitimes anliegen – moral ist von dieser seite nicht zu erwarten (hab’s an anderen orten erläutert). Also muss jemand diese moral einfordern – und zwar mit aller zur verfügung stehenden überzeugungskraft. Keine frage von angsthasentum – eher globale überlebensstrategie.

Daniel Hage am 10.01.2015, 18:32
Man(n) hätte das auch Kürzer und Knackiger auf den Punkt bringen können Herr Gross! Einfach A.Merkels Programatischen Halbsatz von der "Marktkompatiblen (sic!) Demokratie" obendrüberschreiben- und danach gaaanz viel Leerraum, um den Penetrant-wiederlichen Gestank dieser Gedanklichen Perversion -welcher Merkel wie die meisten anderen Exekutivgewaltigen der ach so Demokratischen Westlichen Staaten ja auch getreulichst folgen - so richtig auskosten zu können, mehr braucht es dazu gar nicht!

H J Martens am 10.01.2015, 18:48
@Sullivan Frisch: Keiner behauptet, dass Demokratie einen Persilschein für Sicherheit [Welche Sicherheit meinen Sie denn?] darstelle. Im Gegenteil ist die Demokratie ein höchst anstrengendes, anspruchsvolles und fragiles Gebilde, das nur in einem aufgeklärten Volk funktionieren kann und laufend verraten und korrumpiert wird. Je komplizierter unsere Strukturen werden, desto subtiler sind die Methoden dabei! -- Das praktisch nicht existente politische Wissen in den USA illustriert dies drastisch, aber auch hier ist das Verständnis für die politisch real wirkenden Kräfte nicht gerade berauschend. -- Und entschuldigen Sie, aber Ihr Argument: „Neue Technologien, neue Abkommen, etc. bergen auch Risiken. Wenn die EU mit der USA ein Freihandelsabkommen abschliesst, weil man mehr Vorteile als Nachteile sieht, gibt es eben auch Nachteile“, ist nichts als das leere Geschwätz der Exponenten des Abkommens und der liberalen Hardliner schlechthin. -- Ungefähr seit Aristoteles vor 2500 Jahren denken die Klügsten über die Bedingungen zur Verwirklichung der Demokratie nach. Daraus haben wir inzwischen robuste Grundsätze gelernt, die nicht mehr diskutiert werden können: Menschenrechte, transparenter Rechtsstaat, Gewaltentrennung, Begrenzung allzu krasser sozialer Differenzen, Verantwortung jedes Mitglieds für sich selbst UND die Gemeinschaft. -- Genau diese Grundsätze werden im neoliberalen Paradigma mit den Füssen getreten. Wie Andy Gross schön herausgearbeitet hatte, ist der Staat „Zu schwach für das Wesentliche“ geworden. Es geht schliesslich um das so unmoderne Gemeinwohl mit allen Dimensionen der Lebensqualität für alle und eben gerade nicht nur um das BIP, wie viele Narren den Neocons nachplappern. -- Und ja, wie Herr Gross darlegt, kann und muss in Zukunft nicht mehr unbedingt der Staat der Garant der Demokratie mehr sein. Daher müssen wir besonders aufpassen, dass unsere dem Gemeinwohl gegenüber korrupten Parlamente und Regierungen keine hirnrissen Verträge abschliessen, welche die elementarsten Prinzipien der Demokratie missachten.

Maya Eldorado am 10.01.2015, 22:19
Etwas scheint mir bei der Thematik untergegangen zu sein! Oder hat etwa Rousseau auch davon gesprochen? Das ist das Thema der französischen Revolution: Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit. Das wurde nie wirklich ernst genommen und es scheint mir eine Voraussetzung, dass eine Demokratie wirklich funktionieren kann. Freiheit soll sein im Bildungs- und Forschungswesen sowie auch in der Religion usw. Das ist hart, aber eigentlich würde das heissen, dass es Geistiges Eigentum so nicht geben darf, weil auch das frei sein soll. -- Gleichheit bedeutet, dass alle vor dem Gesetz gleich sind. Das stimmt so auch nicht. Brüderlichkeit gehört ins Wirtschaftsleben. Das heisst, dass Brüderlichkeit herrschen soll im Herstellen von Produkten für andere oder bei der Arbeit direkt für andere Menschen. Stattdessen herrscht Wettbewerb, Gewinnstreben in die eigene Tasche. Und schauen wir mal die Globalisierung an, wie sie heute ist. Da geht es einzig darum, möglichst viel in die eigene Tasche zu stecken und nicht darum, dorthin Waren zu verschieben, wo nicht genug von etwas vorhanden ist, sondern es wird auch um des materiellen Gewinns wegen gemacht. --- Und nun etwas zur TW intern: Da liesse sich etwas machen mit den Kleinanzeigen. Viele können sich das nicht unbedingt leisten, was man in der Wirtschaft bezahlen muss. Da würde sich doch anbieten, dass welche, die was gut können anbieten und andere die Hilfe brauchen, danach fragen. Das könnten wir vermehrt tun.

Sullivan Frisch am 11.01.2015, 10:24
Maya: Sie lassen einiges ausser Acht. ZB, wenn Sie etwas anbieten, wird es nur dort gekauft, wo es Nachfrage hat. Das ist beim Tauschhandel so, und in der Wirtschaft etc. Vielleicht mal das Thema Wirtschaft genauer anschauen! Lg.

H J Martens am 11.01.2015, 12:34
Haha, der ist aber gut, Herr Frisch: Konzepte der Sozialethik wie also die Parole der Französischen Revolution marktwirtschaftlich zu bewerten! Den rahme ich mir ein! Denn jetzt ist alles klar: Gleichheit und Brüderlichkeit und sogar die Freiheit sind doch allesamt im Quartalsabschluss unrentabel, Unkostenfaktoren. Also holen wir schnell den McKinsey und lassen den Laden endlich mal zackig umstrukturieren.

s chröttli am 11.01.2015, 12:39
@martens - hm, er-frischender sarkasmus. hab auch schwierigkeiten beim konsumieren.

s chröttli am 11.01.2015, 12:56
hatte mal das vergnügen, die rating-agenturen ihrerseits biz zu durchleuchten, die eigentlichen strippenzieher. existierte mal die idee, eine rein europäische rating-bude zu etablieren, um auf diesem weg dem wirtschaftlichkeits-quartals-terror angemessen paroli zu bieten ... eine ganze weile her.

Sullivan Frisch am 11.01.2015, 19:31
@ Hr. Martens: Sie wissen es vielleicht nicht. Zuerst muss das Geld verdient werden, bevor es ausgegeben werden kann. Und wenn Sie beim Staat arbeiten, müssen die Steuereinnahmen so hoch sein, dass die Projekte und Löhne gezahlt werden können, im Endeffekt. Aber hier gibt es oft lieber Wirtschaftsbasching als nachdenken. Es ist eine harte Welt, und ohne die Wirtschaft, gibt es keine Demokratie, und kein geordnetes gesellschaftliches Leben. Dass die Wirtschaft Fehler macht, ist auch klar, aber hier verlieren einige Leute sehr oft den Blick für das Ausmass der Ereignisse, und machen aus Prinzip einen Rundumschlag gegen die Wirtschaft.

H J Martens am 11.01.2015, 20:20
Nicht ganz, Herr Frisch! Sie brauchen mir das Konzept von Rousseaus Gesellschaftsvertrag nicht erklären. Sehen Sie, das wissen Sie vielleicht nicht, gab es unter Ludwig Erhard den Gesellschaftsvertrag V2.0, "Soziale Marktwirtschaft" genannt. Es war ein sehr schöner Ansatz, und er war keineswegs einseitig ideologisch-sozialistisch, sondern eben partnerschaftlich. Mit der Globalisierung und deren Folgen wurde er aber Makulatur. Plötzlich konnten Weltkonzerne das lokal verdiente Geld, mit dem ja genau das Tafelsilber der Demokratie hätte finanziert werden können und müssen, global wegziehen, und der Staat wurde mit Hilfe der stramm neoliberalen Methoden entmachtet. Leider ist es nun so, dass heute alle Parteien (die SVP natürlich ausgenommen, die behauptet ja immer DIE Lösung zu haben) ratlos vor dieser Misere stehen. Weder der Freisinn noch die Linke bringen irgend eine konstruktive Idee zustande, wie denn eine faire und vernünftige Marktwirtschaft heute aussehen könnte. Ich kann Sie versichern, dass ich die Wirtschaft nicht an sich hasse, sie ist unser Partner wie das Blut in den Adern. Meine Kritik: Man vergisst in den ultraliberalen Kreisen das Ziel: Ökonomischer Wohlstand ist gut, aber nicht auf Kosten der Lebensqualität! Leider, das muss auch gesagt werden, stehen die Chancen für ein Umdenken auch auf der linken Seite schlecht, denn auch hier in einem der reichsten Länder der Erde regiert der Neid und die Existenzangst – rein ökonomisch gemessen! -- Das BIP hat in einem armen Land eine völlig andere Bedeutung als bei uns: Dort geht es um die Grundbedürfnisse, etwa im Sinne Maslows, bei uns aber „nur“ noch um eine Maximierung des Konsums zu Gunsten des leidigen Paradigma des ewigen Wachstums, ohne die unsere Wirtschaft angeblich untergehen müsste.

Sullivan Frisch am 11.01.2015, 20:37
Hr. Martens: Ich verstehe Ihre Sorge hier nicht so ganz. Die Parteien haben Rezepte, und es gelingt auch. Wir haben Grosskonzerne hier in Basel, die nicht wegziehen. Mehr kann man hier wirklich nicht wünschen. Basel ist Provinz. In anderen Gegenden der Schweiz geht es auch ziemlich gut. In Deutschland oder anderen Ländern sieht es nicht immer gut aus, aber das hängt auch von der EURO-Krise ab. Hätten man diese Kriese nicht, würde Europa florieren. Nein, nein, ich sehe das Problem nicht. Dass natürlich viele das Konto nicht voll genug bekommen, ist leider die Kehrseite. Aber es gibt auch viele, die nicht so viel verdienen, es aber trotzdem schaffen, glücklich zu sein, und es gibt viele, die es irgendwie schaffen werden. Ohne jetzt auf die Härtefälle einzugehen leben wir doch in einer Welt, wie sie Voltaire bereits beschrieben hat. Wir leben in der besten der möglichen Welt.

M Cesna am 11.01.2015, 20:55
@ H J Martens: Ich halte die Wirtschat durchaus nicht für einen Partner, sondern für ein Kind, und zwar für aktuell ein ziemlich wildes, führungsbedürftiges Kind, das ohne Führung durchaus in der Lage ist, ein Chaos anzurichten. Da die Wirtschaft ja im Schoss der Gesellschaft als Umfeld gedeiht, bedarf es konsistente Führungssrukturen. Analog einer Generationengrenze wäre hier auch eine Grenze zwischen Wirtschaft und Staatsorgane nötig. Nur so kann Aufsicht ausgeübt werden. Die akktuell hieisge Vorgehensweise fördert oft nur per "Filzokratie" die allseitige Verwahrlosung. Die etwas schwächeren Kinder, sprich die braven Bürger kommen dann unter die Räder, der Staatsapparat verkommt zur Metastase der Wirtschaft. Die "Wiederaneignung" des Staates durch den Bürger dürfte aber nicht ganz einfach sein. Die Leutchen sind gar zu bestechlich und könnten absichtlich durch die Staatsstrukturen auch infantil gehalten werden. zwecks Vehinderung des Erwachsen Werdens. Ein typisches Beispiel davon sind die fast schon debil wirkenden politischen Plakate. Die machen jedem Globibuch Konkurrenz.

H J Martens am 11.01.2015, 20:56
ok, Herr Fritsch, dann einigen wir uns doch darauf, uneinig zu sein. Ich sehe zu viele junge Leute im Hamsterrad und Rattenrennen, geprägt und gehetzt von permanenter Existenzangst, ratlos vor einer gewissen Sinnleere. Daher stammt meine Diagnose: Zuwenig Gewicht auf der Lebensqualität. Falls Sie den ÖV benützen: Lesen Sie mal die Gesichter der Menschen über die Generationen hinweg, an Wochen- und Feiertagen, morgens und abends. Tun sie dasselbe in einer Geschäftssitzung. Und wie viele zufriedene, entspannte oder gar fröhliche Gesichter finden Sie?

Sullivan Frisch am 11.01.2015, 21:29
Hr. Martens: Kürzlich hat man wieder einen isolierten Indio-Stamm entdeckt. Die haben alle freundliche gelächelt.

H J Martens am 11.01.2015, 23:04
Herr Frisch: Sie Witzbold! Ich versuche immer noch (es fällt mir nicht immer leicht), kein Zyniker zu sein. Früher gab's mal so eine Formel, die hiess: Wer mit 20 kein Sozialist ist, der hat kein Herz. Ist er's noch mit 60, dann ist er ein Narr. Vielleicht hat sich diese Formel inzwischen umgekehrt, etwa: Wer mit 25 keine Kreissägen an den Ellbogen hat, der bringt's zu nix. Und wer mit 60 nicht verstanden hat, was Lebensqualität und sozialer Anstand sind, der hat den Sinn des Lebens nicht gepackt.

Grummel am 11.01.2015, 23:27
Sie sehen es, Herr Martens, zunehmend realistischer. Aber: Sie werden nie zum Zyniker, Sie müssen sich daran gewöhnen, sich mit geborenen Zynikern auseinander zu setzen. Es ist bald so, als ob man sich mit Eichmann über die Menschenrechte einigen müsste. Er hätte dazu Präzises zu sagen. Nur würde er nie preisgeben, wer es ihm beigebracht hat. -- Betriebsgeheimnis. Oder höhere Bildung. Beides werden wir nie erschliessen können.

H J Martens am 11.01.2015, 22:03
@M. Cesna: In den Zielen sind wir uns völlig einig. Ungezogenes Kind oder Partner wider Willen? Immerhin stellt dieses ungezogene Gör die Hälfte des Gesellschaftsvertrags dar! Ja, es herrscht Führungsbedarf! Wenn die Kräfte im Staat zu unsymmetrisch werden, ist die Demokratie bedroht. Die Gewaltentrennung ist ein Kernstück der Demokratie und muss laufend an die neuen Verhältnisse in der Gesellschaft angepasst werden. Wie wir die Gewaltentrennung jedoch anpassen könnten, weiss ich nicht und bin auch nicht besonders optimistisch. -- Tröstlich für uns alle zu wissen, dass Herr Fischer bereits in der besten aller möglichen Welten lebt! Wir Idealisten haben das Motto: “Besser geht immer” und Demokratie ist ein Dauerprojekt, vor allem weil sich die Welt dauernd ändert. Konsequenterweise muss man dann noch die Grundsatzfragen stellen:
Braucht es die Demokratie überhaupt?
Braucht es einen Gesellschaftsvertrag?
Und wenn ja, braucht es dazu noch Staaten?

Fredi Krebs am 12.01.2015, 09:39
Muss Herrn Frisch tatsächlich erklärt werden, dass Nachfrage auch geschaffen werden kann? Dass ein Grossteil der Wirtschaft von künstlich geschaffener Nachfrage lebt (nicht nur durch psychologische Tricks oder durch Knebelverträge z.B. in der Telekommunikationsbranche oder durch zunächst zurückgehaltene Folgeprodukte, ohne deren Kauf das ursprünglich gekaufte Produkt schon nach kurzer Zeit nutzlos wird; vor allem aber durch Sollbruchstellen, durch künstlich geschaffenen Verschleiss, durch bewusst eingebaute Fehler in Produkten oder sogar durch programmierte Selbstzerstörung etc.)? Und, erlauben Sie mir, Sie zu zitieren, „vielleicht wissen Sie es nicht:“ Geld entsteht durch Schulden. Es muss also mitnichten (ausser von den Lohnabhängigen) erst verdient werden, bevor es ausgegeben werden kann. Auch da kann ich mich Ihren Worten anschliessen: Vielleicht mal das Thema Wirtschaft genauer anschauen!
Ich entschuldige mich, dass ich mit diesem Beitrag das vorgegebene Thema verlassen habe; aber in den TaWo-Kommentarspalten nervt leider extrem oft, dass (vor allem wenn jemand wie hier Maya Eldorado einen konkreten Vorschlag macht) sofort die bekannten grummelnden Zyniker daherkommen und die Diskussion (im besten Fall) auf einen Nebenschauplatz lenken.


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