8. Juli 2014
Neue Zürcher Zeitung
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Schweizer Visionäre:
Der Demokratieverfeinerer
Bekannt wurde Andreas Gross als Armeeabschaffer. Doch der SP-Nationalrat ist von einer übergeordneten Mission beseelt. Er will die direkte Demokratie stärken: lokal, europaweit, global.
Von René Zeller
Wo der Doubs still zwischen den Juraketten dahinfliesst, entrückt man instinktiv der alltäglichen Hektik. Am Ufer des Flusses, nahe bei Pruntrut, liegt das herausgeputzte Städtchen St-Ursanne. Wer würde vermuten, dass hier ein eidgenössischer Überzeugungstäter an einer besseren Welt laboriert?
Zuhinterst im historischen Ortskern hat sich Andreas Gross mit seinem Atelier für direkte Demokratie eingenistet. Das Eckhaus der einstigen Stadtbefestigung, in dem der in Basel aufgewachsene Zürcher SP-Nationalrat logiert, umringt von 30'000 Büchern, von Periodika und Dokumenten sonder Zahl, ist eine intellektuelle Schatztruhe. Kaum vorstellbar, dass in dieser vollgepackten Wohn-Ess-Schlaf-Bibliothek jemand den Überblick behalten kann.
Andreas Gross ist willens, den aus Zürich angereisten Gast vom Gegenteil zu überzeugen. Ein Buch über Fussball? In Brasilien wird gerade Weltfussball gespielt. Der einstige Flügelstürmer des FC Nationalrat greift ins Bücherregal, das sich ans Küchenmobiliar schmiegt. Er befördert eine Publikation von César Luis Menotti ans Licht, dem von intellektuellen Lüften umwehten Ex-Nationaltrainer Argentiniens.
Eins zu null für den Gastgeber.
Die GSoA als Etappe
Andreas Gross ist bekennender Fussballfan. Er analysiert gerne Spielzüge und teaminternes Gruppenverhalten. Sein wahres expertokratisches Wissen liegt allerdings auf den Spielwiesen der Politik. 1974 schloss sich Gross während seines Geschichtsstudiums in Zürich den Jungsozialisten an. Seither ist er unheilbar mit dem Virus politicum infiziert.
Ins nationale Rampenlicht trat Gross, als die von ihm mitbegründete Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) festgefügte sicherheitspolitische Denkmuster radikal infrage stellte. Die direktdemokratische Offensive der GSoA habe im November 1989 zur «erfolgreichsten Niederlage in der Geschichte der Schweizer Demokratie» geführt, urteilt Andreas Gross selbstzufrieden. Gleichzeitig hält er aber fest, dass der Pazifismus nicht Dreh- und Angelpunkt seiner politischen Mission sei. Die konkrete Utopie einer Schweiz ohne Armee sei lediglich Teil seiner fundamentalen Auseinandersetzung mit den direktdemokratischen Spielregeln gewesen.
In der Tat: Andreas Gross ist der direkten Demokratie verfallen. Sie ist sein Beruf, sein Forschungsgegenstand, sein Hobby, sein intellektueller Nektar. Er hat, einem Wanderprediger gleich, zahllose Staaten erkundet – sei es als Mitglied des Europarats, als Wahlbeobachter oder Vortragsreisender. Das Atelier für direkte Demokratie in St-Ursanne ist seine private Denkwerkstatt, die er nutzt, um leidenschaftlich zu debattieren, referieren und publizieren – und um neue Utopien zu entwerfen.
Wo drückt hierzulande der direktdemokratische Schuh? Die Schweiz ist doch mustergültig demokratisch?
Unvollkommene Schweiz
An Optionen, die schweizerische Direktdemokratie zu verfeinern, mangle es nicht, sagt Andreas Gross. Die Einführung der Gesetzesinitiative sei ein überfälliges Postulat. Auch die vorherrschenden Abwehrreflexe gegen die Einführung des Ausländerstimmrechts kämen einem demokratischen Klumpfuss gleich. Und: «Demokratie braucht Infrastruktur», lautet ein Ceterum censeo des Demokratieverfeinerers.
Damit spricht er zum Beispiel die staatsbürgerliche Bildung an. Diese werde hierzulande faktisch den Schulen und Familien überlassen. Die Behörden müssten viel stärker in die Pflicht genommen werden. Gross verweist auf die neue Zürcher Verfassung, in der auf Drängen von ihm selber folgender Passus eingefügt wurde: «Kanton und Gemeinden unterstützen das demokratische politische Engagement.»
Schraubendrehungen am demokratischen Instrumentarium der Schweiz genügen Andreas Gross allerdings nicht. Im Jura denkt er auch über die Vision eines demokratischeren Europa nach. Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung brauche es heute weniger Mut als früher, sich in der Europäischen Union ein Referendum vorzustellen. Wer sich der direkten Demokratie verpflichtet fühle, könne den Ruf nach europaweiten Bürgerinitiativen nicht länger negieren. Der überzeugte Europäer bezeichnet sich gleichzeitig als grosser EU-Kritiker. Das von 500 Millionen Personen bevölkerte Gebilde müsse nicht nur stärker werden, sondern vor allem demokratischer. Den prinzipiellen EU-Kritikern, die notorisch die Volkssouveränität preisen, gibt er zu bedenken: «Ein Nein zu Europa stärkt die direkte Demokratie nicht.»
Visionäre sind von kühnen Ideen beseelt. Wir sitzen vor der Kulisse des jurassischen Kleinods St-Ursanne. Im Abendlicht prallt der Blick jenseits des Doubs an die nächstgelegene Jurakette. Andreas Gross sagt, als habe er freien Blick aufs Mittelmeer: «Es reicht nicht, die EU demokratischer zu gestalten; wir brauchen globale Standards.»
Will heissen: Das Recht auf Bildung, Nahrung und Obdach müsste universell gewährleistet werden. Jegliches Machtgefüge sei zu verpflichten, diese Grundrechte zu achten. Als konkrete Utopien hat Andreas Gross weltregionale Parlamente vor Augen und ein globales Gericht als letzte Instanz. Damit einher geht die lapidar und gleichermassen visionär anmutende Forderung, dass kein Mensch rechtlos sein dürfe.
Kein bisschen politikmüde
Soeben haben die Schweizer Fussballer in Brasilien unverdientermassen gegen Argentinien verloren. Das hindert den temporär paralysierten Andreas Gross nicht daran, an seinen kühnen transnationalen Visionen festzuhalten. Nach seinem für 2015 annoncierten Rücktritt aus dem Nationalrat will er hängige Buchprojekte realisieren, Wahlen beobachten, in Europa und Übersee für die direkte Demokratie werben. Der 62-jährige Weltverbesserer ist kein bisschen politikmüde – jedenfalls nicht, wenn es um die direkte Demokratie geht. Er will Denken, Handeln und Arbeiten miteinander verbinden. Das erfordert, dass er von St-Ursanne aus immer wieder zu den direktdemokratischen Baustellen dieser Welt aufbricht. Solange die Beine tragen.
Von Sachbüchern umzingelt: Andreas Gross in seinem Atelier für direkte Demokratie im jurassischen St-Ursanne.
(Bilder: Karin Hofer / NZZ)
Kontakt mit Andreas Gross
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