20.7.2014
Tageswoche
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Im Zuge des Neonationalismus werden übernationale Errungenschaften wie die EMRK und der EGMR in Frage gestellt und deren enorme Bedeutung verkannt
Fragen: Jeremias Schulthess
Die SVP plant offenbar einen politischen Vorstoss zur Kündigung der EMRK (zumindest Bekämpfung). Wie bewerten Sie dieses Vorgehen?
Einerseits ist dies ihr gutes Recht. Und erst noch nichts Neues. Es wäre nicht der erste aus der SVP-Fraktion mit dieser Tendenz. Andererseits zeigt die SVP damit, wie sehr sie bereit ist, zivilisatorische Errungenschaften der vergangenen siebzig Jahre in Frage zu stellen, und welch totalitäres Verständnis von Demokratie sie sich zu eigen macht.
Denken Sie, dass eine Volksinitiative zur Kündigung der EMRK eine Chance hätte?
Wenn die SVP eine solche Volksinitiative lanciert, dann hat sie durchaus Chancen, die nötigen hunderttausend Unterschriften zusammenzubringen. Damit löst sie dann freilich eine Grundsatzdebatte aus, an deren Ende eine Zustimmung einer Mehrheit von Volk und Ständen zur Kündigung der EMRK sehr unwahrscheinlich ist.
Was wären die Folgen einer Kündigung der EMRK?
Die Schweiz würde sich aus der Gemeinschaft zivilisatorischer Staaten verabschieden, aus dem Europarat hinausfliegen, und hätte in Europa nur noch Weissrussland, die letzte wahrhafte Diktatur, in der Willkür herrscht, immer noch Menschen zum Tode verurteilt und hingerichtet werden, zum Partner. Innenpolitisch wären die Grundrechte nicht mehr geschützt und wie die Minderheiten Gegenstand und Opfer von Mehrheitsentscheiden. Es herrschte ein totalitäres Demokratieverständnis. Ich persönlich würde auswandern und in Kanada oder Dänemark um Asyl nachsuchen.
Die SP unterstützt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in allen Belangen. Aber versteht die Bevölkerung überhaupt, was sie an der EMRK hat?
Die Menschenrechte sind im kollektiven Unterbewusstsein der Schweizerinnen und Schweizer nicht sehr verankert. Das liegt in der Geschichte der Schweiz des 20. Jahrhunderts begründet. Die Menschenrechte in ihrem heutigen Verständnis sind Kinder der Gewaltorgien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als viele Staaten die Würde der Menschen nicht schützen konnten und deshalb dieser Schutz nach 1945 überstaatlich verankert wurde – eine revolutionäre Errungenschaft, die als solche in der Schweiz, die von dieser Gewalt nur am Rande erfasst und an ihr nur indirekt beteiligt war, nie richtig erkannt und verinnerlicht wurde. Leider unterstand der Beitritt der Schweiz zur EMRK 1974 auch nicht dem obligatorischen Referendum und leider hat niemand vom fakultativen Referendum Gebrauch gemacht, so dass es keine grosse öffentliche Debatte gab, die einen gesellschaftlichen Lern- und Erkenntnisprozess realisiert hätte. Und da auch die entsprechenden politischen Bildungseinrichtungen und Bemühungen in der Schweiz sehr schwach sind, ist es durchaus möglich, dass viele unter uns die Bedeutung der Menschenrechte verkennen und die enorme Bedeutung und den Schutz durch die EMRK und den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in Strassburg verkennen.
Immer wieder stehen die Menschenrechte zur Debatte. Erleben wir – zumindest in der Schweiz – einen Niedergang der Menschenrechte?
Sie werden seit etwa zehn Jahren in der Schweiz immer wieder angegriffen, doch eine grosse Debatte hat sich bei uns um sie noch nicht entwickelt. Ich würde aber nicht von einem Niedergang sprechen; sondern die fehlende Verankerung in der schweizerischen Gesellschaft – beispielweise vergleichbar mit derjenigen der Direkten Demokratie – wird jetzt ausgenutzt und bewirtschaftet. Allgemein erleben wir in Europa ein Wiedererstarken des Nationalismus, gerade auch in privilegierten Ländern wie der Schweiz, den Niederlanden oder Dänemark. Im Zuge dieses Neonationalismus werden auch übernationale Errungenschaften und Einrichtungen wie die EMRK und der EGMR in Frage gestellt und deren enorme Bedeutung in Zweifel gezogen.
Warum schwindet in der Bevölkerung die Zustimmung und das Bewusstsein für Menschenrechte?
Die Tendenz ihrer Frage beruht auf einem Irrtum. In der Schweiz gab es noch nie ein grosses positives Bewusstsein der und für die Menschenrechte. Aus den oben genannten Gründen. Ganz im Sinne von Friedrich Dürrenmatt, der einmal sagte, aus einer Katastrophe könne jeder lernen, die grosse Kunst sei vielmehr, zu lernen, ohne Katastrophe zu lernen. Das hat die Schweiz nach 1945 kaum gemacht – ein riesiges Defizit, das nach 1990 nun immer deutlicher wird. Wir können uns müssen es nachholen. Zu spät ist es nie. Doch es ist anstrengend und nicht viele sind heute bereit, solche Anstrengungen auf sich zu nehmen.
Kontakt mit Andreas Gross
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