14. Mrz. 2014

Vortragsnotizen

Keine Zeit für Utopien? –
Höchste Zeit für konkrete Utopien – aber wie entwickeln wir sie und wie können wir sie politisch fruchtbar machen?



12 Thesen und Fragen zur Diskussion an der BSV-Tagung Friedens(t)räume schaffen! Krieg, Rüstung und Gewalt überwinden, Minden

Von Andreas Gross, Pol’wiss/Lehrbeauftragter/NR/ER
Atelier für Direkte Demokratie, St-Ursanne (Jura/Schweiz)


Weder Illusion, noch Wolkenkuckucksheim oder unmöglich. Ein ausgesprochen historischer Begriff. Wie jemand über Utopien denkt und den Begriff versteht, sagt meist mehr über sie und ihn sowie über die Zeit und das Umfeld aus, in der sie leben, als dass es den Begriff bestimmt.


Dabei hat Thomas More in Utopia von 1515 schon viel deutlich gemacht: Die Insel jenseits der Welt, die ein schiffbrüchiger Seefahrer zufällig entdeckte, und von der er wieder zurückfand und erzählen konnte: Ein mögliches anderes und besseres Leben für alle, das es (noch) nicht gab.


Aus der 500jährigen Geschichte der Utopien und des utopischen Den­kens gilt es auch zu lernen. Von ihrer Verzeitlichung Ende des 18. Jahr­hun­derts (Mercier, Paris 2440), ihrer bürgerlichen Vermählung mit der Gewalt (nach dem Terreur Robespierres während der Französischen Revolution), dem Scheitern der (autoritären) Ansiedlungen utopischer Sozialisten (1820-1870), der Demokratisierung der Utopie durch Gustav Landauer (1905) und durch den Philosophen Ernst Bloch (1885-1977), dessen Prinzip Hoffnung seiner ursprünglichen Meinung nach «Träume von einem besseren Leben» hätte betitelt werden sollen.


Radikale Alternative im Interesse fast aller, objektiv möglich, doch (noch) nicht da, bedarf unseres Engagements und Handelns. Doch handelt es sich um einen Prozess, kein fixes Ziel. Je näher wir unserer (alten) Vorstellung der (konkreten) Utopie kommen, desto eher wird sie abgelöst werden durch eine neue – in welche zwischenzeitliche Erfahrungen und Überlegungen und Lerninhalte eingegangen sind.

➎.
Heute gibt es kaum mehr DIE (allesumfassende) Utopie; eher viele konkrete Utopien in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Orten.


Utopien fallen auch in Krisen (sog. Sattelzeiten)nicht vom Himmel. Sie müssen gemeinsam erarbeitet werden. So wie wir nur gemeinsam handeln können, können wir das heute mögliche Andere auch nur gemeinsam ausloten und verdeutlichen. Keiner kann allein finden, was an anderen besseren Möglichen schlummert in unserer Gegenwart.


Die grösste Illusion wäre zu glauben, es könnte einfach so weiter gehen wie jetzt. Vielen fehlt viel. Enormer Utopie- und Handlungsbedarf. Reformen realisieren sich meist nur in kleinen Schritten – um so mehr benötigen wir aber die grosse Richtung, die uns unsere konkreten Utopien vermitteln; so machen sie uns kritik-, handlungsfähig (keine Flucht aus der Realität) und stiften Motivation.


Erfahrungen schaffen Hoffnung und nachhaltige Handlungsfähigkeit; deshalb können «Inseln der Zukunft» helfen, «Vorscheine» zu schaffen und illustrieren, was an besserem Anderen möglich wäre.


Die grosse Utopie der Überwindung der gesellschaftlichen Gewalt­sam­keiten und der Gewaltträchtigkeit in einer Welt, in der die Menschen zu sich und zueinander gefunden haben, in viele kleine konkrete Utopien aufbrechen:

✩   Europäische Verfassung mit transnationaler Demo­kratie zur Restauration der politischen Macht gegenüber der Macht der Ökonomie
✩   Globalisierung der EMRK als Baustein einer globalen Demokratie
✩   Demokratisierung der UNO
✩   Nicht entfremdete (Lohn)Arbeit ohne Zerstörung der natürlichen Lebensvoraussetzungen
✩   Eine Welt, in der alle genug zu essen, Bildung, Ob­dach, Gesundheit und kulturelle Erfüllung finden und sich entfalten können
✩   Wir lernen, die mit Freiheit notwendigerweise verbun­denen Konflikte gewaltfrei auszutragen und fruchtbar zu machen für gemeinsames kollektives Lernen
✩   Gemeinsames erwerbsarbeitsfreies Grundeinkommen für alle
✩   Lernen ohne Katastrophen – damit es nicht zu Kata­stro­phen kommt
✩   .........

«Es ist erwiesen, dass in dem Masse, wie sich praktische Alternativen zu einer subjektiv als unerträglich betrachteten Situationen zeigen, die Bereitschaft wächst, sich auf Lernprozesse einzulassen.» (O. Negt). Entsprechende Alternativen sind umso wirksamer, als dass sie an den Alltagserfahrungen (und der politischen Lebenswirklichkeit) der Menschen anzuknüpfen verstehen.

➊ ➊
Konkrete Utopien können uns lehren, in Alternativen zu denken, was wiederum hilft den Möglichkeitssinn zu schärfen, herauszufinden, was anderes besseres möglich wäre und die Menschen dafür zu gewinnen.

➊ ➋
Das Paradox unserer Zeit: Obwohl so viele systemische Fehler und Unzulänglichkeiten erkannt sind, leidet «unsere Gegenwart an chronischer Unterernährung der (politisch) produktiven Phantasie»
(O. Negt / E. Bloch)

   Weshalb vermögen wir uns das Ende der Welt besser vorzustellen als die Überwindung des Kapitalismus?

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➛   Unter www.atelierdd.ch (Lehre)
finden Sie alle Materialen und studentischen Arbeiten des Seminars Geschichte und Philosophie des utopischen Denkens an der Uni St. Gallen (Schweiz) vom Herbst/Winter-Semester 2013;

➛   Oskar Negt:
Nur noch Utopien sind realistisch
Steidl, Göttingen 2012

➛   Peter Thompson & Slavoj Zizek:
The Privatization of Hope: Ernst Bloch and the future of Utopia
Duke University Press, Durham & London, 2013


Kontakt mit Andreas Gross



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