19. Dez. 2013

Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ

Gewachsen sind nicht die Ängste
in der Bevölkerung, gewachsen ist die nationalkonservative Desinformationsarbeit



Fragen der FAZ zum Reformbedarf in Sachen Direkter Demokratie und internationalem Recht, beziehungsweise EMRK. Die Fragen stellte Julie Bodenmann.

Ich habe in der NZZ gelesen, dass Jean Christophe Schwaab (SP) die Entscheidung Sommarugas unterstützt. Es sei skandalös, wenn eine Partei das zwingende Völkerrecht in einer Initiative selber definieren würde.

Damit bringt Schwaab seine emotionale Befindlichkeit zum Ausdruck. Politisch hilfreicher wäre es, zusätzlich zu erklären, weshalb dies auch der schweizerischen Bundesverfassung widerspricht und deshalb in einer Volksinitiative einfach so implizit, ohne ausdrücklicher Änderung des entsprechenden Verfassungsartikels nicht akzeptiert werden kann.

Was halten Sie und die SP von der Tatsache, dass Bundesrätin Sommaruga die Durchsetzungsinitiative für teilweise ungültig erklären will?

Dies ist ein richtiger, fälliger und dennoch mutiger Antrag des Bundes­rates und ich werde ihn in der Kommission und im Plenum unterstüt­zen. Ich gehörte schon zu jenen, welche die gänzliche Ungültigkeit der Minarett-Initiative oder der ersten Ausschaffungsinitiative beantragt hatten, weil es der Mehrheit nicht ansteht, über die Grundrechte einer Minderheit zu befinden. Die Direkte Demokratie darf nicht zur Tyrannei der Mehrheit verkommen. Sie ist weit mehr als ein Recht der Mehrheit. Dass daraus auch der Bundesrat jetzt endlich die von der Verfassung gebotenen Konsequenzen zieht, ist ein willkommener Ausdruck seines neuen Mutes.

Sehen Sie darin z.B. eine Verletzung der Direkten Demokratie, oder sehen Sie in diesem Fall einen notwendigen Einsatz von Artikel 139 der Bundesverfassung?

Nein, im Gegenteil, die Direkte Demokratie muss davor geschützt werden zum Recht einer Mehrheit zu verkommen und andere konstitutive Elemente des Gesamtkunstwerkes Demokratie (Rechtstaatlichkeit, Verhältnismässigkeit, Integration in die Europäische Menschenrechtskonvention u.v.a.m.). zu missachten. Wer über Vorschläge abstimmen lässt, die auch im Falle, dass ihnen eine Mehrheit von Bürgern und Kantonen zustimmt, nicht umgesetzt werden können, der untergräbt die Kraft, die Güte und die Legitimationskraft der Direkten Demokratie. Dies wiederspricht übrigens auch der politischen Freiheit; wie sie ebenfalls in der Bundesverfassung verankert ist: Jeder Bürger muss wissen, was sein Entscheid bedeutet. Nur so kann die Direkte Demokratie auch moderne Freiheit ermöglichen und ihre Integrationskraft entwickeln um derentwillen sie so viele Schweizerinnen und Schweizer schätzen. Schliesslich gilt es, daran zu erinnern, dass die geltende Bundesverfassung direktdemokratisch verankert ist. Das heisst eine Mehrheit von Bürgern und Kantonen haben vereinbart, das sich alle Macht an das Recht halten muss. Das bedeutet, dass auch die Mehrheit der Bürger, die direktdemokratisch Macht ausübt, sich an das direktdemokratisch beschlossene Recht halten muss. Deshalb wäre es falsch, die Direkte Demokratie gegen das Recht ausspielen zu wollen.

Wie sehen Sie die Aufgabe des Bundesrates, wenn es um Initiativen geht?

Der Bundesrat hat die Pflicht und Aufgabe, dem Parlament einen verfassungsgemässen Umgang mit den Volksrechten zu beantragen. Er hat der Verfassung die notwendige Achtung zu verschaffen. Dies ist auch deshalb so wichtig, weil die Schweiz auf Bundesebene leider immer noch über kein Verfassungsgericht verfügt. Heute sind die Stimmberechtigten überfordert, mit Referenden die Bundesversammlung zurechtzuweisen, wenn Gesetze oder Bundesbeschlüsse die Verfassung missachten. Umso sorgfältiger sollte sich die Bundesversammlung darum kümmern und dies kann sie nur, wenn ihr der Bundesrat die richtigen Anträge stellt. Bisher war dies nicht immer der Fall. Zu oft verliess sich der Bundesrat auf die Ablenung von Volksinitiativen, beziehungsweise im Falle deren Annahme auf eine dem Völkerrecht entsprechende gesetzliche Umsetzung auch dann, wenn diese der vorherrschenden Interpretation der Befürworter widersprach. Das ist aber nicht nur rechtlich falsch, sondern auch demokratiepolitisch wie gesagt höchst fragwürdig. Es würde letztlich zur Erosion der Direkten Demokratie führen.

Die SVP redet z.B. vom Bundesrat als rein ausführendes Organ. Teilen Sie diese Meinung?

Das kommt darauf an, was man unter diesem Begriff versteht. Man kann darunter durchaus das meinen, was ich oben meinte, als ich die Pflichten des Bundesrates zur Achtung der Verfassung und der Ausarbeitung der entsprechenden Anträge an die Bundesversammlung im Umgang mit Volksinitiativen meinte. Doch die SVP versteht darunter eine reine Briefträger-Rolle; sie meint, der Bundesrat habe keine eigene verfassungsrechtliche Beurteilung vorzunehmen und solle dem Parlament keine entsprechenden Anträge stellen. Damit wünscht sich die SVP ein Verhalten der Regierung, das der Schweizerischen Bundesverfassung widersprechen würde. Und in politisch anders gelagerten Fällen würde die SVP genau dies vehement kritisieren.

Glauben Sie, dass in der Schweiz die Angst vor sogenannt fremden Richtern und fremdem Recht in den letzten Jahren gewachsen ist (z.B. in Anbetracht der Debatte um die dynamische Rechtsübernahme, um den EU-Gerichtshof oder nun um das Völkerrecht)?

Die Ablehnung von fremden Richtern gehört zu den eidgenössischen Gründungs-Mythen. Denken Sie an Gesslers Hut und der Weigerung Tells, ihn zu grüssen im Drama Schillers aus dem 19. Jahrhundert. Diese Ablehnung oder der Wunsch nach Selbstbestimmung ist nach wie vor gross. Gewachsen sind nicht die Ängste, sondern die Anstrengungen nationalkonservativer Parteien, Organisationen und Politiker angeblich fremde Richter auch dort zu finden, wo es gar keine gibt, beispielsweise im Völkerrecht oder im Strassburger Menschenrechtsgerichtshof, einer Instanz des Europarates und nicht der EU und ein Gericht, in dem die Schweiz als allereinziges Land Europas derzeit zwei Richter stellt. Gewachsen sind auch die Bemühungen dieser Nationalkonservativen mit Desinformationsarbeit, die vom Bundesrat vorgeschlagene Rolle des EU-Gerichtshofes in Luxemburg bei der Interpretation des europäischen Rechtes, das auch in der Schweiz auf Grund der Bilateralen Verträge beachtet werden muss, irreführend darzustellen. Diese Anstrengungen tragen Früchte, weil die allgemeine politische Bildung schlecht ist und auch die Medien in der Folge ihrer Krise kaum mehr die Kraft, den Raum und die Zeit finden, abstraktere Fragen in der ausreichenden Tiefe und Ausführlichkeit darzustellen und zu diskutieren. Doch die Direkte Demokratie braucht eine Infrastruktur – kritische Öffentlichkeit, Bildung, Fairness, Transparenz, Zeit, Deliberation und Reflexion – soll sie angemessen funktionieren; die Schweiz hat zu lange zu wenig in diese Infrastruktur investiert – viel weniger beispielsweise als in die Infrastruktur des Strassen- oder des Bahnverkehrs –,und heute zeigen sich die Folgen dieser Unterlassungen, die endlich korrigiert werden sollten.

Glauben Sie, die Schweiz versucht die Kontrolle zurückzugewinnen, die sie freiwillig abgegeben hat (z.B. mit Kontingenten der Massenein­wan­derungsinitiative, die die bilateralen Verträge verletzten würde, oder auch mit der Durchsetzungsinitiative, die gemäß Sommaruga mit der unvollständigen Definition des Non-Refouelement Prinzips die Euro­päische Menschenrechtskonvention und die Flüchtlingskonvention verletzt.)?

Die nationalkonservativen Teile der Schweiz kompensieren die Folgen der von ihnen gepushten zügellosen Transnationalisierung der Märkte durch die Infragestellung der europäischen Abstützung der zivilisa­tori­schen Lerneffekte durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, denen sich die Schweiz glücklicherweise nicht ganz verschlossen hat. Deshalb bedienen sie die von ihnen in der Folge ihres Marktfundamentalismus verunsicherten Menschen mit einem nationalistischen, fremdenfeind­li­chen Diskurs, der diese zivilisatorischen Verankerungen in Frage stellt. Umgekehrt wäre richtig: Es gilt, die Märkte so einzuhegen, dass die kleinen Leute und ihre Interessen nicht unter die Räder geraten. Und dazu braucht es die Ausdehnung der zivilisatorischen Vereinbarungen, nicht deren Abbau. - Dies darzulegen und die Mehrheit davon zu überzeugen haben die Linke und die demokratische Mitte noch nicht geschafft. Diese Anstrengung muss die Schweiz nun endlich stemmen.


Kontakt mit Andreas Gross



Nach oben

Zurück zur Artikelübersicht