05. Dez. 2013

La Regione,
Bellinzona

Ein Basler erklärt den Tessinern die Abstimmungsergebnisse zur Zukunft des Jura


Fragen von Edy Bernasconi. Da ist viel Schweiz drin: Die in französischer Sprache gestellten Fragen dürfen in deutscher Sprache beantwortet werden - und veröffentlicht wird das Ganze in einer italienisch-sprachigen Zeitung. - So geht das!

Comment expliquer, encore une fois, le vote négatif du Jura bernois?

Das ist eine grosse Frage und die Antwort bedürfte der Darstellung einer langen Geschichte. Um es kurz zu machen, hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Gründe: Der Jura ist eine geografische Bezeichnung für eine Region, die in sich viel vielfältiger ist als die übrigen Schweizer sich vorstellen. Das kommt ja bereits in der Feststellung zum Ausdruck, dass es auch einen Baselbieter, Solothurner oder Waadtländer Jura gibt, ganz abgesehen vom französischen Jura. --- Doch auch das Gebiet aus dem Jura zwischen der Ajoie und dem Bielersee, das 1815 von den am Wiener Kongress versammelten europäischen Grossmächten zur Kompensation der Verluste des Aargaus und der Waadt dem grossen alten Kanton Bern zugewiesen worden, war und ist in sich selber viel vielfältiger als die gemeinsame französische Sprache glauben macht. Diese Vielfalt ist älter und tiefer als das gemeinsame Schicksal im Kanton Bern. So ist die religiöse Spaltung mehr als doppelt so alt. Diese hat eine unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung, eine unterschiedliche Industrialisierung und verschiedene Mentalitäten mitbegründet. Zudem ist dieses Gebiet voller eigener Talschaften mit zum Teil eigenen Aussenbezügen und Aussenbeziehungen: die einen zieht es eher nach Biel, die anderen nach Laufen und Basel, wiederum andere nach La Chaux-de-Fonds, Neuenburg oder gar nach Belfort. Die Region ist voller kleinerer spezifischer Zentren (Pruntut, Delsberg, St.Imier, Moutier, Tavannes, Tramelan oder La Neuveville) ohne eines, mit dem sich die ganze Region identifizieren könnte. Die Hügel zwischen den Tälern, beziehungsweise die tiefen Flusstäler zwischen den Hochebenen, fördern auch nicht gerade das Zusammenfinden, tragen aber zur mentalen Abschottung bei. --- Diese Vielfalt und diese Klüfte wurden von den Befürwortern eines grossen Kanton Jura massiv unterschätzt. Sie glaubten viel zu fest, die gemeinsame Sprache sei ausreichend für eine gemeinsame Identität und dies müsse automatisch zur Einsicht in einen gemeinsamen Kantons führen. --- Zudem sind die langen und teilweise sehr heftigen und tief gehenden Auseinandersetzung um die Schaffung eines neuen Kanton Jura und die Festlegung dessen Grenzen zwar seit 40 Jahren vorbei, doch wie so oft hinterliess die Gewalt viel tiefere Spuren als den meisten bewusst ist. Ich hatte den Eindruck, dass viele Menschen der Diskussion der vergangenen Monate aus dem Wege gingen. Sie fürchteten sich davor, alte Wunden aufzureissen und wollten keine alten Schmerzen wieder aufkommen lassen. Insofern kam die Abstimmung wohl immer noch zu früh. --- Schliesslich war auch die Kampagne der Befürworter nicht sehr klug. Sie unterschätzten die Differenzen, gingen viel zu wenig auf die Andersdenkenden zu und betonten zu sehr, wie gut der neue Kanton sei, was für viele zu offensichtlich etwas fragwürdig ist. Zudem ging es auch nicht um die Erweiterung oder Schaffung eines neuen Kantons, sondern bloss um den Einstieg in einen Prozess, dessen Ende völlig offen war. Doch die Hand zur Verständigung wurde zu wenig überzeugend ausgestreckt, so dass sich viele im Berner Jura der Diskussion schlicht verschlossen und verweigerten. Sie scheinen, das was sie haben, so zu schätzen, dass sie sich davor fürchten, etwas Neuem, möglicherweise Besseren, aber auf jeden Fall Anderen auch nur eine Chance zu geben.

Et le oui de Moutier?

Moutier ist und war schon immer ein politisch besonderer Ort. Die Präsenz der Separatisten ist stark, wenn auch in den 1970er Jahren noch nicht mehrheitsfähig. Viele von ihnen haben sich ein klareres Ja erhofft. Ob diese 54 % ausreichen, um für den Übergang in den Kanton Jura eine Mehrheit zu finden, muss bezweifelt werden. Deshalb will der separatistische Bürgermeister für sich nun weiter die Zeit spielen lassen. Die innerhalb der kommenden zwei Jahre vorgesehene entscheidende Abstimmung dürfte äusserst umstritten sein. Es werden noch weitere Ängste geschürt werden. Zumal jetzt auch noch der Südjura politisch auseinandergerissen würde. Moutier ist zudem eines der regionalen Zentren mit einer starken Industrie, in dessen Umkreis kleinere Gemeinden wohl auch destabilisiert würden, wenn plötzlich Kantonsgrenzen entstehen zwischen ihnen und ihrem regionalen Zentrum.

Est-ce que la discussion est vraiment terminée?

Nein. Keinesfalls. In einer Demokratie ist eine Frage ohnehin nie endgültig beantwortet. Es ist das Recht einer Minderheit, immer mal wieder auch auf alte Fragen zurückzukommen, wenn sie den Eindruck hat, der Status quo sei unbefriedigend. Abgesehen vom Umfeld um Moutier wird aber wohl die Jurafrage in ihrer bekannten Form nicht mehr so aufgegriffen werden in Zukunft. Es spricht aber einiges dafür, dass in etwas mehr als zehn Jahren der grosse Jura, auch Jurabogen genannt, die Frage aufwerfen wird, ob die kantonalen Grenzen in ihrer heutigen Form wirklich Sinn machen. Doch dann werden nicht nur der Kanton Jura und der alte Berner Jura die Reformdebatte prägen sondern auch Solothurner, Baselbieter, Neuenburger und vielleicht sogar Waadtländer Bezirke und Gemeinden, die finden könnten, ihre kantonalen Zugehörigkeiten entsprächen nicht mehr den Erfordernissen moderner Lebenswelten und müssten neu definiert werden. Dies könnte dann durchaus im Rahmen einer grösseren schweizerischen Föderalismusreform erfolgen.

Qu'est-ce que va se passer si Moutier devrait demander l'adhésion au Jura?

Der alte Kanton Jura wird sich freuen, Moutier und vielleicht auch noch einige kleine Gemeinden um Moutier herum aufzunehmen. Moutier würde dann wohl der vierte Bezirk des Kantons Jura werden. Juraintern wird dann wohl auch die Frage diskutiert werden, ob man dies zum Anlass nimmt, mit den Vertreterinnen und Vertretern von Moutier die Verfassung des Jura total zu revidieren. Einigen wird dies zu viel sein, andere werden dies als willkommene Möglichkeit der Erneuerung und der Zufuhr von frischer Luft begrüssen. Ich persönlich denke, es gibt im Kanton Jura, so jung er auch ist, schon viel Grund zu einer selbstkritischen Grundsatzdebatte; eine solche könnte klug geführt auch integrativ wirken und vor allem die Beziehung zwischen Bürger und Staat verbessern – in beiden Bereichen liegt auch im Jura mehr im argen, als man sich in der übrigen Schweiz bewusst ist.


Kontakt mit Andreas Gross



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