Juli 2013
Arc Jurassien
Rubrik SWISS Know-how
|
Der Jura – eine geniale Region!
Interview mit Andreas Gross, Leiter des Ateliers für Direkte Demokratie. Von Peter Stöferle
Herr Gross, als Zürcher Parlamentarier und Europapolitiker verfügen Sie über starke Wurzeln im Jura. Wie ist das gekommen?
Ich bin nur politisch ein Kind Zürichs; aufgewachsen bin ich einerseits in Japan und andererseits in Basel und dem Baselbiet mit Blick auf den Gempen, einen Gipfel des Baselbieter Juras. Das Dreiländereck – ich fischte mit meiner Grossmutter im Schwarzwald, beobachtete die Tiere mit meinem Grossvater im Elsass, kaufte per Tram in Lörrach Teile für meine Eisenbahnanlage und per Velo in Leymen französische Briefmarken – vermittelt einem in Basel – im Unterschied zu Zürich – einen weiten transnationalen Horizont und eine Nähe zum Jura, in dem ich mit meinen Eltern und Schwestern immer wieder wandern und picknicken ging.
Zürich ist übrigens freier als Basel, vermag Vielfalt politisch besser zu integrieren und zu nutzen als Basel – so dass ich eigentlich ganz zufrieden bin diesem baslerisch-zürcherischen Humus als besonderen Mix, auf dem schon einige schöne politische Projekte zur Blüte gebracht werden können.
Als ich nach der Scheidung vor 15 Jahren in ZH eine günstigere Bleibe für all meine vielen Bücher suchte – der Wohnraum in Zürich ist extrem teuer – bot sich auch dank der guten Verkehrsbindungen – mitten im Herz zwischen Bern, Zürich, Basel, Strassburg und Paris, den Orten, an denen ich in den letzten 30 Jahren gewiss am meisten politische Sitzungen besucht habe – und den vielen freien günstigen Wohnräumen St-Ursanne idealerweise an. So kam ich mit vielen neuen Ideen und Perspektiven gleichsam zurück zu meinen Wurzeln.
Sie sind sehr an der Geschichte des Jura und insbesondere an dessen politischer und wirtschaftlich-industrieller Seite interessiert. Was hebt die Täler des Jura aus der übrigen Schweiz hervor?
Den Jura machen ja nicht nur Täler aus, sondern vor allem auch die Hochebenen wie die Freiberge oder die weite Ajoie. Ebenso gibt es relativ enge Täler wie das vom Doubs geschaffene oder breite lange Hochtäler wie das Val de Ruz oder das Val de Travers. Es ist einerseits diese Vielfalt und andererseits die Weite und dünne Besiedlung der Natur mit ihren vielen einsamen Orten, welche die Landschaft des Jura so besonders macht, der ja viel grösser ist als der gleichnamige Kanton. Einzigartig an der Landschaft des Jurabogens ist vor allem das industrielle Know-how, das sich hier in den letzten 200 Jahren entwickeln und behaupten konnte und das teilweise auch ein ganz besonders, libertäres und solidarisches politisches Bewusstsein schuf – nicht überall im Jura, aber in wesentlichen Teilen von ihm. Dieses ländlich-industrielle Genie macht ihn in Europa einzigartig.
Und etwas persönlicher gefragt: Was macht für Sie den Charme dieser Gegend aus?
Persönlich kann ich hier die Ruhe finden am Fluss, mitten in einem sehr alten Städtchen und doch draussen im Grünen, alleine in der grossen Weite zwischen einsamen Tannen und ewigen Wegen. Dies ist zum Schreiben, Denken, Diskutieren und Auftanken ideal. Zudem finden sich hier noch bezahlbare Wohn- und Arbeitsräume – drei Zugstunden von Paris und zwei von Zürich entfernt Die spezifische Zentralität des Jura hat sich in den Preisen glücklicherweise noch nicht niedergeschlagen. Für viele Deutschschweizer ist die gefühlte Distanz zum Jura grösser als die real geografische.
Sie sind nicht nur Nationalrat der sozialdemokratischen Fraktion, sondern Sie vertreten die Schweiz auch im Europarat und sind dort Fraktionspräsident der SPler. Wo sehen Sie den Jura im europäischen Kontext?
Er ist gewiss neben Basel und Genf der für und nach Europa offenste Teil der Schweiz. Das gehört zur politischen Identität des Jurabogens und seiner Bewohnerinnen und Bewohner aus sieben Kantonen, wovon drei deutschschweizerische sind! Zweitens hat er wie gesagt eine in Europa einzigartige ländliche Industriekultur, in der feine Wunderwerke der Uhren- und Medizin-Branche hergestellt werden, die in der ganzen Welt berühmt und erstaunlich krisenresistent sind.
Seit 1998 ist das Atelier für Direkte Demokratie in St-Ursanne domiziliert. Wofür setzen Sie sich als Leiter dieser Einrichtung ein?
Der Begriff der Institution ist für das schöne Wort des Ateliers vielleicht etwas zu hoch gegriffen. Ein Atelier ist eher eine Werkstätte, in der vielfältig und kreativ gearbeitet wird. In meinem Fall gibt es im Atelier wohl eine der reichhaltigsten Bibliotheken der Schweiz zur Direkten Demokratie, Utopie und zu Europa. Die wollen wir auch elektronisch allen Interessierten zugänglich machen. Zweitens produzieren wir im Atelier die Bücher der Editions le Doubs zur schweizerischen und europäischen Politik, vor allem die schmucke Reihe Service Public. Wir sind in der Schweiz der einzige Verlag, der ohne öffentliche Subventionen all diese Bücher gleichzeitig in den zwei wichtigsten Landessprachen herausgibt und so eine Brücke baut zwischen zwei politischen Öffentlichkeiten, die einander viel zu schlecht kennen und so viel zu wenig voneinander wissen und lernen. Im März 2013 sind die beiden neuesten Bücher erschienen zur Abstimmung über die Wahlform des Bundesrates.
Zudem wird im Atelier viel gedacht, geschrieben und Handlungsperspektiven werden entwickelt zur Analyse und Demokratisierung der Direkten Demokratie, ihrer notwendigen Transnationalisierung, beispielsweise einer Europäischen Verfassung, und der Notwendigkeit der Globalisierung der Demokratie, beziehungsweise der Demokratisierung der Globalisierung. Dazu nehme ich seit 20 Jahren Lehraufträge an europäischen Unis wahr, was ich auch nach meiner Zeit in den Parlamenten tun werde. Das Atelier ist die unverzichtbare Basis für all diese Arbeiten, bei denen mir drei engagierte Menschen zur Seite stehen.
Und hegen Sie darüber hinaus weitere Pläne im Zusammenhang mit dem Jura?
Ja, gewiss. Es freut mich, dass ich zusammen mit dem Arc Jurassien, einer Organisation der Kantone und Gemeinden des Jurabogens, in den vergangenen zwei Jahren ein Projekt entwickeln konnte, das die geschilderte einzigartige und reiche ländliche Industriekultur vermehrt ins Bewusstsein trägt und als Humus aufbereiten möchte, auf dem ein neues gemeinsames Selbstbewusstsein entsteht ebenso wie entsprechende Kreativität, Projekte und neue Ideen. Wenn meine Vorschläge zur Visualisierung dieser Geschichte und dieser Kultur ebenso wie Formen ihrer Umsetzung in Zukunftsperspektiven Ende 2013 bewilligt werden, dann kann ich noch weitere 20 Jahre im Jura für seine Zukunft kreativ wirken!
Die Jurafrage ist nach wie vor nicht gelöst: Die vom Bund eingesetzte Interjurassische Versammlung hat unter anderem einen Projektvorschlag ausgearbeitet, der die Loslösung des Südjuras vom Kanton Bern zugunsten einer Vereinigung mit dem jetzigen Kanton Jura vorsieht. Wie sehen Sie als Bundespolitiker und Bewohner des Jura diesen Vorschlag?
Mich freut zuerst, dass sich alle Beteiligten gemeinsam und einvernehmlich auf ein mutiges Verfahren zur Konfliktbearbeitung einigen konnten. Das schafft eine positive Integrations-Dynamik, die wertvoll ist. Wichtig ist, dass wir begreifen, dass es im November um die Frage geht, ob ein neuer Prozess eröffnet werden soll; es geht um einen neuen Anfang – wohin dieser neue Weg führt, bleibt völlig offen. Freilich frage ich mich, ob der Zeitpunkt für die Entscheidung nicht immer noch zu früh kommt. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Gräben aus den Abstimmungen der 1970er Jahre immer noch da sind und die Menschen daran hindern, zusammenzukommen und über eine gemeinsame Zukunft nachzudenken.
Die Jurafrage reicht mittlerweile bereits beinahe zwei Jahrhunderte zurück. Worum geht es eigentlich im Kern?
Die Spannungen, Trennungen und Quellen des Dissens sind viel älter und haben vor allem mit unterschiedlichen Glaubensfragen zu tun, die politisch zu oft instrumentalisiert worden sind. Im Grunde geht es um politisch willkürliche Trennungen in unterschiedliche Herrschaftsgebiete einer grossen kulturell und landschaftlich vielfältigen, aber doch zusammengehörenden Region. Diese Gemeinsamkeiten hatten seit 500 Jahren keine gemeinsame politische Form finden können. Und in diesen 500 Jahren sind immer wieder von regionsfernen Kräften Trennlinien geschaffen worden, welche die fremden Interessen denjenigen der Bewohnerinnen und Bewohner der Region voranstellten.
Wie könnte für Sie eine einvernehmliche Lösung der Jurafrage aussehen? Und wie realistisch schätzen Sie die Möglichkeit dazu ein?
Wie vorher angetönt, ist es möglicherweise für eine einvernehmliche und zukunftsträchtige Möglichkeit noch zu früh. Deshalb macht es auch keinen Sinn, sie im Detail schon auszumalen. Es geht erstmals um die Eröffnung eines gemeinsamen Prozesses, der ergebnisoffen ist und sein muss. Mir scheint es wichtig zu sein, dass wir betonen - und das wird im Jura oft vergessen: Es braucht auch politisch eine Einheit in der Vielfalt, das heisst Integration ebenso wie Dezentralisierung, ein grösseres Ganzes wie kleinräumige Selbstbestimmungsmöglichkeiten. Wichtig ist, dass die gemeinsame Lebenswelt mit dem einzigartigen ländlich-industriellen Genie sich auch politisch gemeinsam organisieren und freiheitlich gestalten und entwickeln kann. Das wird wohl noch einige Jahrzehnte ein politisches Projekt bleiben, an dem wir arbeiten dürfen und müssen.
Herr Gross, wir danken Ihnen für dieses Interview.
Kontakt mit Andreas Gross
Nach oben
|