9. Mai 2013

Weltwoche

Erfinder der Zukunftswerkstätten
zur Entfaltung politischer Kreativität



Zum 100. Geburtstag des kosmopolitischen
Humanisten Robert Jungk
(11. Mai 1913 - 14. Juli 1994)


In den 1970er und 1980er Jahren wurde der etwas untersetzte Mann mit den schlohweissen Haaren, den buschigen Augenbrauen und den hellwachen Augen eine Ikone der europäischen Umwelt- und Friedens­bewegung. Robert Jungk fehlte auf keiner grossen Kundgebung, wo es einen Hoffnungsstifter und Mutmacher brauchte für eine andere, menschengerechtere Zukunft.

Robert Jungk ist geboren worden und aufgewachsen als Kind eines jüdischen Künstlerehepaars in Berlin – die Mutter war Schauspielerin, der Vater in den 1920er Jahren vor allem Autor von Stummfilm-Dreh­bü­chern. Dass er schon bald nach der Machtübernahme der Nazis sich der Inhaftierung durch Flucht entziehen musste, überraschte nieman­den. Im Exil – immer wieder Paris, Prag, Bern und vor allem Zürich – entwickelte er sich auf Grund seiner Kontakte und Beziehungen zu den in Deutschland überlebenden Menschen zu einem hoch geachteten Journalisten und Berichterstatter, auf dessen Wissen in den letzten Kriegsjahren nicht einmal die in der Berner US-Botschaft residierenden US-Geheimdienstler verzichten mochten.

Vom Flüchtling über das Zuchthaus
zum Chefredaktor ad interim der Weltwoche


1932 bestand Robert Jungk in seiner Heimatstadt Berlin das Abitur und engagierte sich früh als Antifaschist. Kurz nach der Machtübernahme Hitlers anfangs 1933 riss er an der Uni drei Titelseiten des Völkischen Beobachters vom Anzeigebrett, wurde erwischt und mit Glück wieder freigelassen. Danach konnte Jungk jedoch nicht länger in Berlin bleiben und musste flüchten.

Erst schlug er sich einige Jahre in Paris durch, zu Beginn als Sekretär verschiedener Filmproduzenten, später, seinem Vorbild, dem rasenden Reporter Kisch folgend, als Herausgeber eines deutschsprachigen Pressedienstes über die Entwicklungen in Nazi-Deutschland. Eine schwere Erkrankung veranlasste ihn Ende 1935 zur illegalen Heimkehr nach Berlin, wo er nach seiner Gesundung wieder bei einer Untergrundzeitung arbeitete.

Im Herbst 1936 kam ihm die Geheimpolizei wieder auf die Spur. Dies­mal wählte Jungk Prag als Fluchtort, wo er anderthalb Jahre lang wöchentlich zehn Artikel verfasste und «auf knallgelbem Papier postalisch überall dorthin verschickte, wo es noch deutschsprachige Zeitungen gab, die nicht zum Herrschaftsbereich von Goebbels gehörten».

Im März 1938 marschierten die Nazis in Österreich ein. Jungk war klar, dass damit auch Prag fallen wird. Bereits Ende März verliess er Prag, diesmal nach Zürich, wo ihn sein Berliner Schulfreund Hermann Levin-Goldschmidt, ein später sehr bekannter Philosoph erwartete. Bis ans Kriegsende konnte Jungk mit viel Glück in Zürich bleiben, in der «Stadt, die ich liebe, obwohl ich mich vor den meisten ihrer Bürger immer noch etwas fürchte. Denn ihre naserümpfende Missbilligung der 'cheiben Usländer' habe ich nur zu gut kennengelernt.» Jungk schlug sich wiederum mit verschiedenen journalistischen Arbeiten durch, die er unter zahlreichen Pseudonymen veröffentlichte.

Besonders gut kamen die mit F.L. gezeichneten Deutschland-Berichte in der Weltwoche an. Dort waren Dinge zu lesen, so Jungk in seinen Erinnerungen, die «sonst in der von ängstlichen Neutralitätshütern kontrollierten Schweizer Presse kaum mehr zu lesen waren: Das schuf die Voraussetzung für den Erfolg der Weltwoche und ihres Chefredak­tors Karl (Charly) von Schumacher, der lieber Verwarnungen riskierte, als ein langweiliges, weitgehend gleichgeschaltetes Blatt zu machen.» Schumacher, auf Grund seiner sexuellen Orientierung selber ein Aussenseiter, habe sich allen anderen Aussenseitern, auch, so Jungk, den Heimatlosen, verbunden gefühlt. So sehr, dass er Jungk nach Kriegsende für einige Wochen sogar die Chefredaktion der Weltwoche überliess, um die kriegsversehrten Länder selber bereisen zu können, mit denen er sich in seinen wöchentlichen Leitartikeln auseinandersetzte.

Bis dahin war Jungks Exil freilich nicht immer sehr gesichert. So konnte die Zensurbehörde im Sommer 1943 die wahre Person hinter den Pseudonymen eruieren und zum Tagesanbruch des 7. Juni 1943 holte ihn die Fremdpolizei ab mit der Botschaft «Usschaffe!». Er war schon auf dem Weg an die Landesgrenze, erst mit dem Zug, dann mit dem Polizeiauto, als dieses kurz vor der Grenze vor einer Polizeiwache plötzlich stehen blieb. Der Fahrer musste telefonieren und dann umkehren. Die Intervention des einflussreichen Zürcher Verlegers und Buchhändlers Emil Oprecht (1895 bis 1952) hatte im letzten Moment gewirkt. Statt in den Fängen der Nazis landete Jungk im St. Galler Zuchthaus. Sein Kommentar: «Ich glaube, es war selten einer so glücklich bei seiner Einlieferung ins Zuchthaus wie ich!»

Das Verhindern menschengemachter Katastrophen

Robert Jungks lebensgeschichtliche Grunderfahrung war, in seinen eigenen Worten, «das untilgbare Schuldgefühl, damals im Jahre 1942 versagt zu haben», als er und alle anderen Menschen nicht verhindern konnten, dass sechs Millionen Juden, darunter auch viele Familien­angehörige Jungks aus Böhmen, in den Konzentrationslagern der deutschen Nazis vergast wurden. Aus diesem Schuldgefühl schöpfte Jungk lebenslang eine ungeheure Energie, weitere menschengemachte Katastrophen zu verhindern.

Nach dem Krieg und dessen zweitem Schock, die Abwürfe der beiden US-Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, ging Jungk als US-Korrespondent verschiedener deutschsprachiger Zeitungen, vor allem dem nach, was der US-Präsident der 1950er Jahre, Eisenhower, als militärisch-industriellen Komplex bezeichnete. In seinen ersten beiden Büchern Die Zukunft hat schon begonnen; Amerikas Allmacht und Ohnmacht (1952) und Heller als Tausend Sonnen; das Schicksal der Atomforscher (1956),die beide Weltbestseller wurden, illustrierte Jungk anhand der US-Atom- und Kriegsindustrie sowie der vielseitigen Aufrüstung im Kalten Krieg, wie die technische Entwicklung, das Gewinn- sowie das Allmachtbestreben der beiden Supermächte sich lösten von jeglichen Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten der am Gemeinwohl orientierten Bürgerinnen und Bürger dieser Welt. Wenige entschieden über die Zukunft der Meisten und diesen drohte eine Zukunft, welche sie dem kollektiven Untergang näher brachte als der glücklichen Erfüllung.

Wieder zurück in Europa – erst in Wien, später in Salzburg zu Hause – entwickelte Jungk aus diesen Auseinandersetzungen sein Kernthema, das ihn bis ans Lebensende umtrieb: Die Zukunft, genauer, die «Zu­kunft als Projekt». Wer und was bestimmt, welche Zukunft wir alle haben werden? Wie können wir jenes Selbstvertrauen, jene Macht und jene Kreativität in jedem von uns freisetzen, die uns allen, oder jeden­falls mehr als bisher, erlauben, unsere Zukunft selber zu gestalten und weniger jene übernehmen zu müssen, die andere für uns anrichten? Wie können aus Betroffenen Selbstgestalter und Mitwirkende werden?

Robert Jungk wurde durch die Beantwortung solcher Fragen zu einem Pionier einer neuen, in den 1960er Jahren - seiner Meinung nach das hoffnungsvollste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts - entstehenden, etwas irreführend als Zukunftsforschung bezeichneten Wissenschaft.

Handwerker der Hoffung

Jungk ging es aber weder um den Elfenbeinturm noch um die falsche These, wonach Zukunft etwas schicksalshaft Gegebenes sein, das bloss erforscht werden könne. Jungk kritisierte alle grossen technolo­gi­schen, wirtschaftlichen und kriegerischen Bedrohungsquellen und nahm sie zum Anlass, alternative, nicht in den kollektiven Untergang führende Entwicklungschancen freizulegen. Dafür entwickelte und perfektionierte er zusammen mit Norbert R. Müllert ein sozialpäda­go­gi­sches Konzept, die weltberühmt gewordenen Zukunfts-Werkstätten. In einem fein ausgearbeiteten Dreischritt lernen betroffene Menschen in kleineren oder grösseren Gruppen aus der Kritik, und der Alternative schliesslich eine Reform dessen zu entwickeln, was sie stört, bedrängt oder verzweifeln lässt. In den vergangenen 50 Jahren haben damit Hundertausende von Menschen in der ganzen Welt gelernt, ihre politische Macht gemeinsam zu entfalten und realitätsverbessernd einzusetzen.

Wurde aus dem Schwaben Ernst Bloch (1885-1977) der Philosoph der Hoffnung und konkreten Utopie, ist Robert Jungk zu deren Handwerker, Lehrer und Mechaniker geworden. Anfangs der 1970er wollte er einem Buch den Titel Projekt Jedermann geben. Dieser Titel schien dem Verlag zwar zu grau, enthielt aber im Selbstverständnis von Robert Jungk genau die Botschaft, die er unter die Leute bringen wollte. Sie lautete: «Es gibt in jenem Menschen Begabungen und Kräfte, die von der Gesellschaft nicht ernst genommen und nicht gefördert werden. Die bis zur Verkrüppelung gehende Verkümmerung ungenutzter Fähig­keiten (…) muss durch Zustände ersetzt werden, in denen die ganz besondere Schöpferkraft eines jeden einzelnen entwickelt wird.» So könnten wir, das ist gleichsam das Vermächtnis Robert Jungks, gemeinsam eine Zukunft gestalten, in denen alle allen eine Heimat schaffen könnten.

Robert Jungk über Vergessen und Erinnern

«Es ist mir aufgefallen, wie erstaunlich ungleich mein Gedächtnis funktioniert. Nebensächliche private Szenen sind mir so präsent, als hätten sie sich erst gestern ereignet. An wichtige zeitgeschichtliche Begebenheiten und Begegnungen kann ich mich oft gar nicht mehr oder nur ganz ungefähr erinnern. So ist mir weder der Tag des zweiten Weltkriegsausbruchs noch des Kriegsendes gegenwärtig. Dabei waren das doch Daten, die man mit grösster Angst, beim Beginn des Mordens, oder mit freudiger Erregung, bei seinem Ende, erwartete. Geht es auch anderen Menschen so? Ich habe herumgefragt und wurde zu meiner Überraschung bestätigt. Könnte das so sein, weil wir uns an solchen Tagen nicht als Subjekte, sondern als Objekte eines allgemeinen Schicksals erleben und daher von dem, was da vorgeht, weniger dauerhaft beeindruckt werden als von ganz persönlichen Ereignissen?»

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Literatur- und Lesehinweise

1993, ein Jahr vor seinem Tod und kurz nach seinem Wahlkampf als Kandidat der Grünen für das Amt des Bundespräsidenten Österreichs veröffentlichte Robert Jungk seine Lebenserinnerungen unter dem Titel Trotzdem, mein Leben für die Zukunft. Hanser-Verlag, 550 Seiten.

Zum 100. Geburtstag von Robert Jungk haben Klaus Firlei und Walter Spielmann, Leiter der Jungkschen Internationalen Bibliothek für Zu­kunfts­fragen in Salzburg, einen Erinnerungsband Projekt Zukunft mit 14 Beiträgen von Weggefährten aus Österreich, Deutschland und der Schweiz zur Aktualität von Robert Jungk herausgegeben. Otto Müller Verlag Salzburg-Wien, 310 Seiten.


Kontakt mit Andreas Gross



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