30. Aug. 2012
Siegener Zeitung
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Symposium zum Thema Schweiz: Blick ins Land der Stimmbürger
Wissen. Am Ende waren es doch 130 interessierte Zuhörer, die sich am Mittwochnachmittag bei sommerlichen Temperaturen in der angenehm kühlen Atmosphäre des Wissener Kulturwerks eingehend mit der politischen Struktur unseres Nachbarlandes Schweiz beschäftigten. Anders als noch bei der Reihe Pro AK, bei der der ehemalige Bundes- und Landtagsabgeordnete Ulrich Schmalz jeweils einen Redner begrüßte, traten im neuen Format Marienthaler Forum nun gleich drei Redner nacheinander ans Pult.

Die Gedanken sind frei - und die Rede auch: Der visionäre Andi Gross, Nationalrat und Mitglied des Europarates, zog das Publikum in seinen Bann. Foto: goeb
goeb - Daran schloss sich dann eine Podiumsdiskussion an, besetzt mit Personen, die ebenfalls über reichlich politische und wirtschaftliche Erfahrung verfügen: Hans Theo Macke, Vorstandsmitglied der DZ Bank, die Bürgermeister Aloysius Söhngen (Prüm) und Heinz-Joachim Höfer (Altenkirchen) - beide leiten den Städte- und Gemeindebund Rheinland-Pfalz - sowie der frühere Staatsminister Hans-Artur Bauckhage aus Biersdorf. Schmalz schickte voran, dass ihm wegen der aufwändigen Veranstaltung seitens seiner Frau Skepsis entgegengeschlagen war. «Du verrennst dich da in was», habe sie bemerkt. «Ja, wenn man etwas erreichen will, dann muss man das auch», habe er geantwortet. Und etwas erreichen will Schmalz. Er hoffe, sagte er eingangs, dass man einen inhaltsreichen Tag erlebe und dass die hier entgegengenommenen Anregungen auch von den politischen Parteien aufgegriffen und umgesetzt werden. Schon einmal, erinnerte Schmalz, sei von diesem Sprengel aus eine umwälzende Vision in die Welt gegangen, als nämlich Friedrich Wilhelm Raiffeisen mehr und mehr Anhänger für seine genossenschaftlichen Ideen gewann. Dass Deutschland, speziell das politische System, eine Erneuerung brauche, daran ließ Schmalz keinen Zweifel. Die Schuldenmacherei, die Umverteilung von - real nicht vorhandenem - Geld (Jeder hat die Hand in der Tasche der anderen) und das grassierende Desinteresse breiter Bevölkerungsschichten an der Politik bis hin zu tiefer Abneigung gegenüber der politischen Klasse - all das müsse doch zu denken geben. Die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie, einem funktionierendem Steuerwesen und entsprechenden Überschüssen, mit einer hervorragenden Infrastruktur bei faktischer Vollbeschäftigung lade geradezu dazu ein, bestimmte Organisationsstrukturen von ihr zu übernehmen. Und dann ging es gleich ans Eingemachte: Der Soziologe Prof. Dr. Andreas Ladner aus Zürich streifte zunächst die Geschichte der Schweiz und ging besonders auf die Besetzung durch Napoleon ein, der zwar vier Jahre später wieder abzog, aber 25 (heute 26) gleichberechtigte Kantone zurückließ. Überhaupt Frankreich (und Amerika) und ihre Revolutionen: Sie waren auch nach Dafürhalten von Nationalrat Andi Gross, der später sprach, grundlegend als Ideenschmiede für die politische Architektur des Staates Schweiz. Bis heute bilden die Kantone starke Gegengewichte zum Bund. Ohne ihre Zustimmung, verdeutlichten die beiden Schweizer, laufe nichts. «Der Staat blieb schlank», so Prof Ladner. Dass aber das kleinste aller Kantone genauso viele Stimmen habe wie das größte, dies sei wohl eine Schweizer Eigenart. Die direkte Demokratie bringe es mit sich, dass man sich in der Schweiz immer wieder neue Partner suche, um bestimmte Projekte mehrheitsfähig zu machen. Das habe System, sagte Ladner schmunzelnd. «Man integriert den politischen Gegner und holt ihn in einer Sache an Bord, um eine mögliche Blockade zu brechen.» In der Schweiz stoße man aufgrund der föderalen Strukturen aber auch leicht auf harte Widerstände. Vom Prinzip der Gleichmacherei wollten viele Schweizer nichts wissen. «Es gibt sieben Methoden, die Höhe eines Hauses zu berechnen», erwähnte Ladner - je nach Kanton. Die Wichtigkeit regionaler Eigenheiten drücke sich schon ganz profan im Nummernschild der jeweiligen Autos aus. Ladner: «Wir pflegen die Unterschiede und finden das gut.» Ein wichtiger Unterschied zu Deutschland bestehe auch darin, dass sich Kantone und Gemeinden (es gibt 2485) das Geld vom Stimmbürger selbst holten. Wer bezahlt, befiehlt, wer befiehlt, zahlt - nach diesem Grundsatz funktioniere bei den Eidgenossen die sogenannte fiskalische Äquivalenz.
Es wird immer diskutiert
Doch der Professor verschwieg nicht, dass das Steuersystem eine Dauerbaustelle darstellt. In reichen Kantonen zahlt man viel mehr Steuern als in armen, in Zug etwa doppelt so viel wie im Kanton Schwyz. Das ist selbst nach Schweizer Geschmack ein zu großes Gefälle. Im Land der Stimmbürger wird immer diskutiert. Etwa 1500 Wahlgänge und entsprechend viele Entscheidungen kann ein Schweizer durchschnittlich in 60 Jahren unternehmen. In Zürich beispielsweise werden die Bürger bei allen Projekten oberhalb von 20 Mill. Franken Volumen gefragt. «Dadurch haben die Menschen viel mehr Verständnis für die Motive anderer», betonte Ladner, der aber auch von unliebsamen Voten sprach, etwa dem Anti-Minarett-Beschluss, der dem Land viel Kritik eingetragen habe.
Privileg «nicht lernen zu müssen»
Prof. Roland Vaubel (Universität Mannheim) entdeckte in der Summe mehr Vorteile in der repräsentativen Demokratie (Parlamente) als im stark auf Referenden fußenden System der direkten Demokratie. Gleichwohl: Es gebe Ausnahmen. Dass die Schweiz mehr ein Vorbild für Europa als für Deutschland sein könne, diese Ansicht vertrat Andreas Gross, der auch Mitglied des Europarates ist. Zu viel Macht, sagte er, gebe einem das Privileg, nicht lernen zu müssen. In der Schweiz sei Macht anders gelagert als in den meisten anderen Nationen - direkter beim Bürger. «Das führt auch zu einem ganz anderen Demokratieverständnis.» Das sei doch viel mehr als wählen unter einem bestimmten Parteienangebot alle vier Jahre. Wenn von der Krise der Demokratie in Europa die Rede sei, meinten die Bürger nicht die Idee der Demokratie.
«Fotografie des Augenblicks
Die sei etablierter denn je, davon sei er überzeugt. «In vielen Staaten beschränkt sich die Demokratie aber auf das Repräsentative. Viele Menschen fühlen sich also ausgeschlossen, weil sie so nicht teilhaben können.» Dann erführe man sein Leben viel eher als Schicksal. Gross: »Wer die Demokratie retten will, der muss sie transnational fassen.» Eben deshalb sei eine europäische Verfassung vonnöten. Allerdings: «Wenn die Menschen sich schon in ihrem Land zu Hause entfremdet fühlen, woher soll dann der Druck für eine europäische Verfassung kommen?» Zu den (wenigen) Volksentscheiden in Deutschland äußerte sich Gross skeptisch. «Das ist nicht mehr als die Fotografie des Augenblicks.» In der Schweiz gingen solchen Entscheidungen viel längere und intensivere Diskussionen voraus. «Die Legitimität ist am größten, wenn sich die Betroffenen äußern konnten.» Dann sei der einzelne auch viel eher bereit, eine ihm nicht genehme Mehrheitsentscheidung zu akzeptieren. Gross warb dafür, die Latte für ein Volksbegehren nicht zu hoch zu legen.
Wichtige Entscheidungen nicht übers Knie brechen
Den Vorwurf, Volksbegehren verlangsamten die politischen Entscheidungen, ließ er nicht gelten. «Jedes Ding hat seine Zeit. Wenn Sie natürlich die Börsenzeit zugrunde legen, dann haben Sie keine Zeit.» Wichtige Entscheidungen könne man jedoch nicht übers Knie brechen. Und auch die oft gehörte Kritik, das Modell der direkten Demokratie funktioniere vielleicht in der kleinen Schweiz, nicht aber in größeren Gebilden, verfange bei ihm nicht. «Das ist doch keine geografische Kategorie», argumentierte er und unterfütterte das mit einem Beispiel. «Wenn Sie ein Dorf haben, in dem keiner dem anderen zuhört, dann können Sie zurecht sagen: Das Dorf ist zu groß für direkte Demokratie.»
Kontakt mit Andreas Gross
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