3. Sept. 2012

Die zehn Irrtümer der Mehrheit des Kantonsrates


b>Im Abstimmungsbüchlein an alle Stimmberechtigten des Kantons Zürich nennt die Geschäftsleitung des Kantonsrates zehn Gründe, welche die Mehrheit des Kantonsrates veranlasst hätten, den Stimmberechtigten die Abschaffung des Konstruktiven Referendums vorzuschlagen. Diese zehn Gründe sind wenig überzeugend. Teilweise bringen sie sogar ein Denken zum Ausdruck, das die Direkte Demokratie überhaupt in Frage stellt.

Hier die zehn Einwände gegen diese zehn vermeintlichen Gründe – zehn Argumente also, das Konstruktive Referendum nicht abzuschaffen, die Verfassungsänderung vom 23. September also abzulehnen.

«Freiheit und die Demokratie mögen manchmal anstrengend sein. Doch
viele sind zu dieser Anstrengung
bereit. Denn sie wissen, dass die Folgen
von weniger Demokratie und von autoritäreren Herrschaften ungleich schwieriger zu ertragen wären.»
1. Die Zahl der Gegenvorschläge sei nicht begrenzt, es könne zu kompli­zier­ten Mehrfachabstimmungen kommen.

Das kann sein. Doch dies ist nicht ein Grund, das Konstruktive Referendum abzuschaffen. Mehrfachabstimmungen sind auch die Folge des Rechtes des Kantonsrates, Varianten eines Gesetzesartikels der Volksabstimmung unterbreiten zu dürfen. Auf dieses Recht will er aber nicht verzichten. Er will nur dieses gleiche Recht den Stimmberechtigten vorenthalten. Das ist nichts anderes als der Schutz eigener Privilegien und nicht im Interesse aller.

Wenn der Kantonsrat wirklich findet, es gelte mehr als Doppelabstimmungen zu verhindern, dann kann er dies in einem Ausführungsgesetz so festhalten. Dann müsste er aber auch auf eigene Varianten verzichten, wenn Kon­struk­tive Referenden ergriffen würden und wenn dies in mehr als zwei Fällen passiert, das dritte Konstruktive Referendum auf den nächsten Abstimmungs­termin verschieben.

Dies ist aber alles noch nie passiert. Das sind Ängste zum Voraus. Mehr als zwei Konstruktive Referenden pro Parlamentsvorlage sind bisher nie ergriffen worden. Wir schütten auch nicht das Kind mit dem Bade aus, nur weil das Wasser etwas zu warm ist oder das Wasser überläuft.

2. Auf Bundesebene sei das Konstruktive Referendum auch abgelehnt worden.

Stimmt. Das Konstruktive Referendum gibt es sonst nur in den Kantonen Bern und Nidwalden, wo es niemand abschaffen will. Im Bund ist eine entsprechende Volksinitiative der SP 2003 tatsächlich abgelehnt worden. Freilich mit einem ganz bundesspezifischen Grund: Im Zweikammersystem sei die Anwendung des Konstruktiven Referendums zu kompliziert, hiess es. Zudem müsse man gewährleisten können, dass der Volksvorschlag verfas­sungsgemäss sei. Beide Argumente sind auf Kantonsebene irrelevant. Umso beschämender, wenn dieses Argument gegen das kantonale Konstruktive Referendum in ZH angeführt wird, ohne zu sagen, dass selbst auf Bundesebene die Verfeinerung der Volksrechte auch von damaligen Gegnern des Konstruktiven Referendums auf Bundesebene befürwortet ist!

3. Eine Hauptvorlage mit zwei Varianten sei zu kompliziert für die Stimmenden

Achtung: Unterschätzen wir die Bürgerinnen und Bürger nicht. Es ist einfach und gefährlich, den anderen zu unterstellen, etwas sei für sie kompliziert, es jedoch selber durchaus zu schaffen. Demokratische Mitbestimmung setzt immer etwas Sachkunde, Interesse und Informiertheit voraus. Dies bringen viele Stimmberechtigten mit. Die bisherigen Erfahrungen bei zwei Varianten haben gezeigt, dass die Stimmenden durchaus stimmig entschieden haben. Das heisst sie haben das Verfahrungen verstanden, auch wenn die Inhalte anspruchsvoll waren.

Eine etwas kleinere Stimmbeteiligung um 4 Prozent fällt angesichts der üblichen Schwankungen der Stimmbeteiligung zwischen 30 und 60 Prozent nicht ins Gewicht.

Und wenn der Kantonsrat findet, die Stimmberechtigten müssten besser ausgebildet werden, dann wohl an! Er hat das Recht, das Engagement der Bürgerinnen zu fördern und auch deren politische Bildung zu stärken. So werden noch mehr Bürger auch komplizierte Verfahren bewältigen.

Die Direkte Demokratie aber zu schmälern unter dem Vorwand, die Bürger seien überfordert, ist überheblich, elitär und widerspricht der direktdemokratischen Kultur.

4. Das Konstruktive Referendum untergrabe die parlamentarische Kom­pro­missfindung

Wir behaupten das Gegenteil. Das Konstruktive Referendumsrecht ver­hin­dert, dass der Kantonsrat eine wesentliche Interessensgruppe einfach übersehen oder ignorieren oder Päckli-Vorlagen schnüren kann, welche zu viel verschiedenartige Objekte in eine einzige Vorlage stopft. Denn der Kantonsrat weiss, dass die Bürger oder deren Vertreter sich mit einem Konstruktiven Referendum wehren können, wenn sie den Eindruck haben, keine faire Chance zu einem guten Kompromiss bekommen zu haben. Deshalb wird die parlamentarische Kompromissfindung sorgfältiger und umsichtiger sein.

So wurden auch die bisherigen acht Konstruktiven Referenden in der Volksabstimmung alle verworfen und keines konnte sich gegen die Parlamentsvorlage durchsetzen. Zweimal zeigte aber die differenzierte Debatte, dass der parlamentarische Kompromiss nicht überzeugte, weshalb beide Alternativen, die Vorlage des Parlamentes wie auch der Gegenvorschlag von Stimmberechtigten verworfen worden ist.

Dies spricht für und nicht gegen das Konstruktive Referendum und illustriert, dass es die parlamentarische Arbeit vielleicht nicht vereinfacht, die Qualität der zu findenden Kompromisse aber erhöht, also für die Güte der parlamentarischen Arbeit die richtigen Anreize im Interesse aller gibt.

5. Die Annahme der Verfassungsräte, das Konstruktive Referendum komme nur in besonderen Fällen zum Einsatz, habe sich nicht bestätigt

Der Verfassungsrat wollte die Direkte Demokratie revitalisieren und verfeinern. Deshalb hat er auch die Zahl der für Initiativen und Referenden notwendigen Unterschriften massiv herabgesetzt. Wunschgemäss führte dies zu einer deutlichen Erhöhung der pro Jahr ergriffenen Volksinitiativen und Referenden.

Seit der Inkraftsetzung der neuen Verfassung vor sechseinhalb Jahren waren dies wieder sieben Volksinitiativen pro Jahr – ähnlich wie schon in den 1970er und 1980er Jahren – und zwei bis drei Referenden pro Jahr. Demgegenüber wurden in diesen sechseinhalb Jahren nur neun Konstruktive Referenden ergriffen, also etwas mehr als eines pro Jahr.

Dies ist die Kadenz, die wir uns im Verfassungsrat vorgestellt haben. Nicht immer, aber auch nicht zu selten, sondern eben für besondere Fälle. Wären es weniger Konstruktive Referenden gewesen, würde der Kantonsrat heute behaupten, es sei nicht attraktiv genug und deshalb könne man darauf verzichten. Auch hier agieren die Stimmberechtigten vernünftiger als ihnen von einigen Kantonsräten unterstellt wird. Ganz abgesehen davon, dass einige Kantonsräte an einigen Konstruktiven Referenden ganz wesentlich beteiligt gewesen sind. Das ist aber beiden nicht vorzuwerfen, weder den Kantonsräten, aber auch nicht dem Konstruktiven Referendum!

6. Die Hoffnung des Verfassungsrates, das Konstruktive Referendum würde die Rechtsetzung beschleunigen, habe sich als Trugschluss erwiesen

Hier irrt die Kantonsratsmehrheit nicht nur gewaltig, sie argumentiert auch unredlich. Zweimal hat das Konstruktive Referendum die Rechtsetzung tatsächlich massiv verlängert. Doch nicht engagierter Bürger wegen, sondern weil die einen Kantonsräte das neue Volksrecht austesten und ausreizen wollten und andere dagegen wiederum das Bundesgericht anriefen als Schiedsrichter, weil sie die Vorlagen ihrer Kollegen als unangemessen betrachteten.

Das ist im übrigen bei neuen Rechten immer so. Sie werden anfänglich ausgereizt bis mit Hilfe des Gerichtes eine angemessene Praxis sich herausschält. Diese Verzögerungen, welche von Politikern verantwortet wurden, nun aber dem neuen Volksrecht anzulasten, ist unsachlich und unanständig.

Zweitens kann man die These des Verfassungsrates gar noch nicht beurteilen. Denn der beabsichtigte Zeitgewinn zeigt sich erst dann, wenn ein angenommenes Konstruktives Referendum verhindert, dass wegen eines umstrittenen Passus in einer kantonsrätlichen Vorlage, an der ein ganzes Gesetz in einer Volksabstimmung scheitert, die ganze Gesetzgebung wieder neu beginnen muss. Genau dies kann mit dem Konstruktiven Referendum verhindert werden, weil dann der besseren Alternative gleichzeitig zugestimmt werden kann und so das Gesetz in Kraft treten kann und nicht die Ausarbeitung eines neuen neu beginnen muss.

Dieses falsche Argument des Kantonsrates illustriert, dass es zu früh ist, um die Güte des Konstruktiven Referendums abschliessend zu beurteilen. Dies kann erst in einigen Jahren und vor allem erst dann geschehen, wenn einige Konstruktive Referenden sich in Volksabstimmungen durchsetzen können. Dies war aber bisher in den vergangenen sechseinhalb Jahren nie der Fall. Deshalb ist dieses Argument der kantonsrätlichen Geschäftsleitung nicht nur falsch und irreführend, sondern auch unredlich und eines Parlamentes in einer Demokratie meines Erachtens unwürdig.

7. Es sei für Parteien zu einfach, die 3000 Unterschriften für das Konstruktive Referenden zusammenzubringen in 60 Tagen

Die Volksrechte sind in der Schweiz seit jeher auch von den Parteien benutzt worden. Anfänglich sogar nur von den Parteien, später in den 50er und 60er Jahren nur von den linken und unabhängigen Parteien, in den 70er und 80er Jahren eher weniger von den Parteien und seit etwa zehn Jahren wieder vermehrt auch von den Parteien. Dies ist also weder neu noch überraschend, zumal in der Schweiz nie jemand behauptet hätte, die Parteien gehörten nicht zum Volk und dürften sich deswegen nicht der Volksrechte bedienen.

Zweitens haben der Verfassungsrat und das Volk ganz bewusst die Unter­schriftenzahlen für Volksinitiativen und Referenden für alle gesenkt. Das passt vielleicht einigen Parlamentariern nicht, welche sich von den Vor­schlä­gen und Einwänden der engagierten Bürger gestört fühlen. Dies ist jedoch im Interesse der Bürgerinnen und Bürger sowie ein Anliegen der Direkten Demokratie – die Volksrechte sollten eben wirklich allen Gruppierungen offen stehen und nicht nur den starken und grossen, die ohnehin im Parlament gut vertreten sind.

Schliesslich ist sich der Kantonsrat offenbar überhaupt nicht bewusst, dass es einfacher ist für ein simples Referendum Unterschriften zu sammeln, weil man dann ganz unterschiedlich motivierte Neinsager ansprechen und ge­winnen kann zur Einsprache. Ein Konstruktives Referendum unter­schrei­ben aber nur jene, die von der bestimmten Alternative überzeugt sind. Es ist also anspruchsvoller. Es müssten unter diesem Aspekt also für das Konstruktive Referendum eher weniger Unterschriften verlangt werden als für das übliche, allgemeine.

Auch hätte der Kantonsrat, wenn er sein Argument wirklich ernst nehmen würde, ja den Parteien das Ergreifen des Konstruktiven Referendums verbieten oder die Unterschriftenzahlen für Parteien ganz generell erhöhen können. Doch dazu hat sich niemand im Parlament durchringen können. Dann darf man aber auch nicht mit dem Argument, es falle den Parteien zu leicht, ein Volksrecht zu ergreifen, allen im Volk dieses Recht vorenthalten. Denn nur die wenigsten in diesem Volk sind Parteimitglieder. Sie wollen aber dennoch als Bürgerinnen und Bürger handeln können. Genau deswegen ist ja die Direkte Demokratie erkämpft worden vor bald 150 Jahren.

8. Das eingehende Befassen mit Gesetzesvorlagen führe bei den Stimmberechtigten zur Verdrossenheit

Mit diesem «Argument» illustriert die Geschäftsleitung des Kantonsrates, dass sie viele Stimmende unterschätzt und das Wesen der Direkten Demokratie verkennt. Die Direkte Demokratie ist in der Schweiz nicht deshalb so beliebt bei den meisten Bürgerinnen und Bürger, weil sie einfach, simpel und anspruchslos wäre. Wir alle wissen, dass die Freiheit und die Demokratie manchmal anstrengend sind. Doch viele sind zu dieser Anstrengung durchaus bereit. Denn sie wissen, dass die Folgen von weniger Demokratie und von autoritäreren Herrschaften ungleich schwieriger zu ertragen wären.

Viele Stimmende setzen sich mit den Abstimmungsvorlagen sorgfältig auseinander und versuchen die Texte und deren Erklärungen zu verstehen. Verdruss produzieren nicht anspruchsvolle demokratische Verfahren, welche eine differenzierte Meinungsäusserung erlauben, sondern unverständliche, in sich widersprüchliche Gesetzestexte, das Gefühl, manipuliert zu werden oder keine echte Entscheidungsmöglichkeiten zu haben oder nicht gehört zu werden mit dem eigenen Anliegen.

Das Konstruktive Referendum mag für einige Kantonsräte sowohl anstren­gend wie auch unbefriedigend sein. Denn es erlaubt ihnen nicht, ab­schlies­send ein Gesetz so zu formulieren, wie sie es wollen. Doch genau dies will die Direkte Demokratie, was auch im Artikel 50 der Zürcher Verfassung zum Ausdruck kommt: Der Kantonsrat ist nicht abschliessend für die Gesetz­ge­bung zuständig, sondern nur gemeinsam mit den Stimmberechtigten. Deshalb muss er diese Kompetenz mit ihnen teilen und kann sie nicht ausschliessen oder auf Ja- oder Nein-Sager beschränken. Was für die Kantonsräte also anstrengend und möglicherweise unbefriedigend sein kann, ist für die Bürgerinnen und Bürger ein Gewinn. Deshalb sollten letztere der Empfehlung der ersteren in dieser Sache auch nicht folgen!

9. Über eine ähnliche Sache an zwei verschiedenen Abstimmungsterminen abzustimmen sei untauglich

Auch damit begibt sich die Mehrheit des Kantonsrates auf hypothetisches und dünnes Eis. Es ist noch nie vorgekommen, dass mehr als drei Kon­struktive Referenden pro Gesetz ergriffen wurden, eines von ihnen also an einem anderen Termin als die anderen der Volksabstimmung hätte unterbreitet werden müssen.

Vorsorglich, obwohl dies vielleicht einmal in fünf Jahren der Fall sein könnte, behauptet der Kantonsrat, das wäre dann untauglich.

Doch auch dem ist nicht so, wie dieses Jahr auf Bundesebene anhand der beiden Volksinitiativen der Hausbesitzer für Steuervergünstigungen illustriert werden kann. Weil die beiden Volksinitiativen sich nicht einfach aus­schlies­sen und um keine Verwirrungen zu provozieren, hat der Bundesrat die beiden Anliegen in der fast gleichen Sache auf zwei verschiedene Abstimmungs­ter­mi­ne dieses Jahres gelegt. Das finden einige Stimmberechtigte möglicher­weise anstrengend oder unangemessen, doch untauglich ist es keinesfalls. So werden die Resultate der beiden Abstimmungen kaum wegen mangelnder Tauglichkeit angefochten werden!

Auch dies also ein äusserst fragwürdiges Argument, mit dem sich nur anfreunden kann, wer wenig direktdemokratische Ein- und Übersicht hat – oder wer meint, zu viele würden solchen entbehren und liessen sich so ..... über den Tisch ziehen!

10. Es sei problematisch, wenn die Stimmenden sich um Details von Gesetzen kümmern müssten!

Ja, wo sind wir denn?!? Auch in der Politik liegt der Teufel im Detail. Kaum etwas ist ohne Kenntnis der Details wirklich zu beurteilen. Und schon gar keine Gesetze! Glaubt die kantonsrätliche Mehrheit wirklich, die Bürgerinnen und Bürger, denen er seine Wahl verdankt, seien so wenig an Details interessiert? Und wer sagt, was ein Detail ist? Ist es nicht häufig so, dass für den einen ein Detail ist, was für den anderen sehr bedeutsam und zentral?

Die Direkte Demokratie lebt von den Menschen, die sich im Detail um die Politik und um die Gestaltung ihrer Umwelt kümmern. Weil dies viele Menschen wollen und wissen, dass sie anders nicht frei sein können, freuen sich auch so viele Schweizerinnen und Schweizer, in einer Direkten Demo­kra­tie zu leben. Wissen so viele Kantonsräte wirklich nicht, dass dem auch in Zürich so ist?

Dieses Scheinargument ist nicht nur kein Einwand gegen das Konstruktive Referendum, sondern es stellt die ganze Direkte Demokratie in Frage. Das wurde immer wieder in den letzten Jahren von jenen behauptet, welche in der Schweiz und im Kanton Zürich gar keine Volksrechte einrichten wollten. Wer so argumentiert, unterschätzt die politische Lust und Freude vieler, er ver­kennt das Wesen der Direkten Demokratie und möchte wieder zurück zum rein parlamentarischen System, in dem die Bürger die Parlamentarier wählen, diesen aber die Gesetzgebung ganz überlassen.

Wir aber wollen eine feine Direkte Demokratie und deshalb möchten wir auch auf das Konstruktive Referendum, das uns eine feine Mitbestimmung ermöglicht, nicht verzichten.

Nein zum Abbau der Demokratie!
Nein zur Erosion der Direkten Demokratie!
Nein zur Abschaffung des Konstruktiven Referendums!
Nein zur Verfassungsänderung vom 23.9.2012!



Kontakt mit Andreas Gross



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