Aug. 2012

AG/KomgDabb

Zur Volksabstimmung vom 23. September 2012 im Kanton Zürich Geschichtlicher Hintergrund, Kontext
und Grundlagenargumentation für das
Konstruktive Referendum



15 Schritte zum Nein zur Änderung der Kantonsverfassung
und gegen die Abschaffung des Konstruktiven Referendums («Vorschlag der Stimmberechtigten»)

1.
100 Jahre lang sind auch in Zürich, dem schweizerischen Pionierkanton in Sachen Volksrechte, die Instrumente der Direkten Demokratie unverändert geblieben. Als ob sich die Gesellschaft nicht weiterentwickelt hätte und als ob in den letzten Jahrzehnten nicht viele Bürgerinnen und Bürger gelernt hätten, differenziert über politische Probleme nachzudenken und Gesetzesvorlagen aus dem Kantonsrat zu beurteilen. Zu lange haben zu viele unter der «Mo­der­ni­sierung» der Direkten Demokratie nur deren Erschwerung und die Zurück­bindung der Bürger verstanden.

Die Direkte Demokratie wird verfeinert

2.
Im Zürcher Verfassungsrat war dies 2000 bis 2005 anders. Vor allem die Sozialdemokraten nahmen sich auch die Verfeinerung der Direkten Demo­kratie vor und wollten wieder zu einer Verfassung beitragen, die auch be­züg­lich Volksrechte auf der Höhe der Zeit war. Nachdem die Verfas­sung von 1869, die jetzt abgelöst werden sollte, damals schon die direkt­demo­kra­tisch­ste Verfassung der Welt gewesen war.

Keine kalte Erschwerung der Volksrechte

3.
Unter der Stärkung und Verfeinerung der Direkten Demokratie verstanden die progressiven Verfassungsräte vor zehn Jahren: Zunächst sollte die kalte Er­schwerung des Unterschriftensammelns in Folge der immer dominanter wer­den postalischen Stimmabgabe - immer weniger Stimmberechtigte ge­hen an die Urnen, an denen aber früher etwa viermal einfacher Unter­schrif­ten für neue Initiativen oder Referenden gesammelt werden konnten als an irgend einem anderen Ort - durch die Reduktion der für Volksinitiativen und Gesetzesreferenden notwendigen Unterschriftenzahlen ausgeglichen werden. Deshalb schlug der Verfassungsrat eine Reduktion der für Volksinitiativen nötigen Unterschriften von 10'000 auf 6‘000 Unter­schriften und bezüglich des Referendums eine solche von 6‘000 auf 3‘000 Unter­schriften vor.
Eine Neuerung, die seit der Annahme der neuen Kantonsverfassung durch das Zürcher Volk und deren Inkrafttreten am 1.1.2006 den erhofften Zweck erreichte: So wurden seither wieder wie in den 1970er Jahren etwa sieben Volksbegehren pro Jahr eingereicht, nachdem im Jahrzehnt zuvor nur noch zwei pro Jahr die nötige Unterschriftenzahl geschafft hatten. Auch konnten wieder, wie in der Direkten Demokratie erhofft, auch kleine und im Parlament schlecht oder gar nicht vertretene Gruppierungen die Volksrechte gebrauchen und in der Volksabstimmung sogar eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger von ihrem Anliegen überzeugen!

Neue Behördenrechte

4.
Des weiteren sollten die Instrumente der Direkten Demokratie verfeinert werden: Einerseits durch die Schaffung von Behördeninitiativen und -Referenden für Gemeinderäte: Einige Gemeinden beziehungsweise die Parlamente der beiden grossen Städte Zürich und Winterthur können nun durch Behördeninitiativen und Behörden-Referenden auf die kantonale Gesetzgebung einwirken.
Andererseits und vor allem durch die Einführung des Konstruktiven Referendums, welches bei Volksabstimmungen über Referenden die Optionen der Bürgerinnen und Bürger über das simple binäre Ja- oder Nein-Sagen zu einer Gesetzesvorlage des Parlamentes hinaus um das Recht erweitert, eigene Alternativen gleichzeitig mit der Vorlage des Parlamentes zur Diskussion stellen zu können.

Direkte Demokratie nicht auf Ja-oder Nein-Sagen reduzieren

5.
Das Konstruktive Referendum ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern, nicht einfach nur ein ganzes im Parlament verabschiedetes Gesetz oder eine Gesetzesrevision anzunehmen oder abzulehnen. Denn meist provozieren bloss einzelne ganz konkrete Aspekte, manchmal sogar nur ein einziger Aspekt eines Gesetzes Opposition. Die Gegner haben nun mit dem Konstruktiven Referendum die Möglichkeit, ihre Alternative zur vom Parlament vorgesehenen Norm ebenso zur Volksabstimmung zu bringen. So eröffnet sich den Stimmberechtigten die Möglichkeit, zwischen dem Status Quo, dem Reformvorschlag der parlamentarischen Mehrheit und der Idee aus der Bürgerschaft auswählen zu können.

Das Konstruktive Referendum als Zwilling des parlamentarischen Gegenvorschlags

6.
Damit kann das Konstruktive Referendum als Zwillingsbruder des Rechtes des Parlamentes angesehen werden, einer Volksinitiative in der Volksab­stim­mung einen parlamentarischen Gegenvorschlag zu unterbreiten. So heisst dann das Konstruktive Referendum offiziell auch Gegenvorschlag der Stimmberechtigten. Das Abstimmungsverfahren inklusive Stichfrage ist entsprechend geregelt worden und sowohl beim Gegenvorschlag des Parlamentes zu einer Volksinitiative als auch dem Referendum mit einem Gegenvorschlag der Stimmberechtigten dasselbe.

Stärkung der Direkten Demokratie

7.
Das Konstruktive Referendum stärkt die Direkte Demokratie in verschiedener Hinsicht:

7.1. Es motiviert die Kritiker des Parlamentes, nicht einfach nur Nein zu sagen, sondern zu versuchen, mit eigenen Alternativen die Stimm­be­rech­tig­ten von einer besseren Reformlösung zu überzeugen. Damit wird wie beim Gegenvorschlagsrecht des Parlamentes zu einer Volksinitiative das dialogische Moment der Direkten Demokratie gestärkt. Geht es doch bei ihr nicht einfach um eine Konfrontation «Wir gegen die Anderen», sondern um die Möglichkeit sich über Partei- und andere Grenzen hinweg zu verständigen und Kompromisslösungen zu finden, die auch unter den Stimmberechtigten verankert werden können.

7.2. Es zwingt die Parlamentarier, die Kompromissfindung nicht auf das Parlament zu beschränken, sondern diese mit allen interessierten Bürgerinnen und Bürgern in der Öffentlichkeit zu finden, beziehungsweise diese davon zu überzeugen. Das heisst, das partnerschaftliche Moment der Direkten Demokratie wird gestärkt und deren konfrontatives Element abgebaut.

7.3. Das Konstruktive Referendum spart Zeit: Oft muss nach der Ablehnung einer Gesetzesvorlage in der Volksabstimmung der ganze, mehrjährige Reformprozess von Neuem beginnen, was notwendige Reformen oft verzögert. Dank dem Konstruktiven Referendum kommen die Alternativen gleichzeitig zur Mehrheitsvorlage zur Volksabstimmung und werden sofort ausgemehrt und die Entscheidung nicht wieder verschoben.

7.4. Das Konstruktive Referendum ist nicht komplizierter als andere demokratische Rechte, wie zum Beispiel das Wahlrecht, das den Bürgerinnen und Bürgern Kumulations- und Panaschiermöglichkeiten eröffnet. Dass sich die meisten Stimmberechtigten nicht so schnell überfordert fühlen wie einige ParlamentarierInnen behaupten, lässt sich auch daran erkennen, dass die Stimmbeteiligung im Frühling 2011, als die Steuergesetzrevision mit zwei Konstruktiven Referenden die Stimmenden vor einige geistige Herausforderungen stellte, nicht wesentlich tiefer war als in den Vorlagen ohne Konstruktive Referenden.

7.5. Ganz grundsätzlich kann der Wert und die Bedeutung eines neuen Volksrechtes nicht innert sechs Jahren beurteilt werden. Dazu braucht es mindestens eine zehn-bis zwölfjährige Erfahrung. Deshalb kann der Antrag der Kantonsratsmehrheit, jetzt bereits wieder auf das Konstruktive Referendum zu verzichten, sachlich gar nicht angemessen und ausreichend begründet werden. Die überstürzte Zwängerei der Mehrheit des Kantonsrates ist somit sachlich falsch und bringt zudem einen mangelnden Respekt gegenüber dem Verfassungsrat und dem Volksentscheid zugunsten der neuen Verfassung zum Ausdruck.

Die SVP war schon immer und von Anfang an gegen neue, feinere Volksrechte

8.
Die SVP sprach sich schon im Verfassungsrat gegen jegliche Verfeinerung der Direkten Demokratie aus. Sie denkt gern in Schwarz-weiss-Kategorien und freut sich nicht an Differenzierungen und Differenzierungsmöglichkeiten. Doch diese Fundamental-Blockade konnte im Verfassungsrat dank aus­reichenden Möglichkeiten zu ausführlichen Grundsatzdiskussionen in den Kommissionen und im Plenum mit einer Mehrheit der bürgerlichen Verfassungsräte überwunden werden. Die Linke war auch bereit, Kom­pro­misse einzugehen (Verzicht auf die Volksmotion als neues Volksrecht, Verzicht auf die Verlängerung der Sammelzeit der Unterschriften für die Volksrechte), welche die aufgeschlossenen Bürgerlichen der CVP und der FDP vom Sinn einer Ausdifferenzierung der Volksrechte überzeugten. So blieb die SVP sowohl im Verfassungsrat als auch in der Volksabstimmung, in der sie für eine Ablehnung der gesamten neuen Kantonsverfassung warb, in der Minderheit.

Die neun bisherigen Konstruktiven Referenden sprechen für dessen Beibehaltung

9.
Die neun seit dem Inkrafttreten der neuen Zürcher Verfassung anfangs 2006 ergriffenen Konstruktiven Referenden illustrieren Sinn und Zweck dieses neuen Volksrechtes. Es wurde allen Seiten benutzt (auch zweimal von der SVP!), sowohl von im Parlament gut vertretenen Kräften (SP, VPOD, GLP) als auch von ausser-parlamentarischen Vereinigungen (Oberärzte, Jungfrei­sin­nige, Südschneiser). Es vermehrte die Handlungsoptionen der Stimmenden und erweiterte das Feld der öffentlichen Argumentation vor der Volksab­stim­mung, ebenso wie es diese um klare Alternativen konkretisierte.
Und es hinderte in keinem einzigen Fall die Mehrheit des Kantonsrates da­ran, seinerseits die Mehrheit der Stimmenden von der Plausibilität und Aus­ge­wogenheit seiner eigenen Variante zu überzeugen! Das heisst, in allen acht Fällen, in denen bis zum Juni dieses Jahres das Konstruktive Refe­ren­dum bereits zur Volksabstimmung kam, konnte sich die Mehrheit des Kan­tons­rates gegen die Urheber der Referendumsalternative durchsetzen. Die Vorschläge der SVP wie auch der SP oder des VPOD oder der GLP wurden von der Mehrheit der Stimmberechtigten in der Revision der Steu­erge­setz­ge­bung, des Gesundheitswesens, des Bürgerrechtes und der Sozialpolitik nicht berücksichtigt!

Bessere parlamentarische Kompromisse sind die Folge

10.
Die praktischen Erfahrungen mit den ersten Konstruktiven Referenden haben also gezeigt, dass die wichtigste Angst der parlamentarischen Gegner des Konstruktiven Referendums, es würde die parlamentarische Bereitschaft zur Kompromissfindung belasten, beziehungsweise gar verunmöglichen, durch die Wirklichkeit widerlegt wird. In keinem einzigen Fall konnte bisher der parlamentarische Kompromiss von der im Kantonsrat unterlegenen Minderheit durch das Konstruktive Referendum wieder aufgebrochen beziehungsweise ganz zerstört werden. Es könnte vielmehr sogar sein, dass unter dem Damoklesschwert des Konstruktiven Referendums solidere parlamentarische Kompromisse zustande kommen müssen, die dann auch die Debatte in der Öffentlichkeit und die Volksabstimmung leichter und unbeschadet überstehen können.

Parlamentarier versuchten, das Volksrecht auszureizen

11.
Dennoch machte die SVP auch im Parlament von Anfang an Stimmung gegen das neue Volksrecht. Indirekt unterstützt wurde diese Stimmungs­ma­che durch Parlaments-Kollegen, welche das neue Volksrecht in ihrem Sinn aus- bzw. überreizen wollten. Das heisst, sie versuchten im ersten möglichen Anwendungsfall das Volksrecht als parlamentarische Minderheit zu nutzen und dabei das notwendige Gebot der Einheit der Materie zu überdehnen. Dies hatte zur Folge, dass andere Parlamentarier wie üblich das Bundes­gericht anriefen, das als Schiedsrichter wie immer in ersten Anwendungs­fäl­len eines neuen demokratischen Rechtes dessen Grenzen ganz allgemein und jene der Einheit der Materie im besonderen festzulegen hat. Dies hatte auch eine Verlängerung des Gesetzgebungsprozesses zur Folge, da das Urteil des Bundesgerichtes abgewartet und dessen Beschlüsse dann auch noch umgesetzt werden mussten. Daraus aber, wie von einigen Kantonsräten gemacht, generelle negative Qualifizierungen des neuen Volksrechtes abzuleiten, ist unredlich und unangebracht.

Zu viele Kantonsräte missachten die direktdemokratischen Interessen der Bürgerinnen und Bürger

12.
Grundsätzlich fällt beim Studium der kantonsrätlichen Debatte des neuen Volksrechtes auf, wie viele Kantonsräte die Volksrechte im Unterschied zum Verfassungsrat aus der Sicht der Parlamentarier und nicht aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger sowie deren in der Direkten Demokratie erwünschten Mitwirkungsmöglichkeiten beurteilen. Ihr Beschluss, das neue Volksrecht abzuschaffen, beruht auf Argumenten, welche die Direkte Demokratie an sich in Frage stellen. So kann es in der Direkten Demokratie keine «saubere Trennung zwischen den Kompetenzen des Kantonsrates und jenen des Souveräns» geben, wie eine freisinnige Politikerin gegen das Konstruktive Referendum argumentierte. Denn die Stimmberechtigten dürfen in einer Demokratie ganz grundsätzlich all das auch tun, was Parlamentarier dürfen; beide teilen sich die Souveränität und nehmen beispielsweise die Gesetzgebungskompetenz gemeinsam wahr. So lautet denn auch der Absatz eins des Artikels 50 der neuen Verfassung mit Bezug auf die Funktion des Kantonsrates: «Der Kantonsrat übt im Zusammenwirken mit den Stimm­be­rech­tigten die verfassungsgebende und die gesetzgebende Gewalt aus.» Es geht also um Zusammenarbeit und nicht um gegenseitige Abgrenzung oder gar Ausgrenzungen, wie dies in rein parlamentarischen Demokratien immer wieder zu hören ist. Der damalige NZZ-Redaktor Kuno Gurtner kommentierte dann auch am 30. März 2011, als sich die kantonsrätliche Mehrheit gegen das Konstruktive Referendum abzeichnete: «Im Kanton Zürich schätzen es die Volksvertreter nicht, wenn ihnen das Volk dreinredet. Deshalb wollen sie ein noch junges Volksrecht wieder abschaffen. (...) Ihr Motto heisst offenbar: Bitte nicht stören, wir wissen schon, was wir zu tun haben!» Dieses Motto wiederspricht aber nicht nur dem Konstruktiven Referendum, sondern der Direkten Demokratie schlechthin.

Anwendungsregeln des Konstruktiven Referendums können durchaus verbessert werden

13.
Der Verfassungsrat hat ganz bewusst darauf verzichtet, den praktischen Erfahrungen vorgreifend, Regeln zum Gebrauch des neuen Volksrechtes festzulegen. Das schien ihm nicht seine Aufgabe zu sein, sondern jenes des Kantonsrates nach einer beispielsweise zehnjährigen Erfahrung mit dem Konstruktiven Referendum. Das heisst, auch die Befürworter und Verteidiger des Konstruktiven Referendums können sich durchaus vorstellen, dass man im Gesetz der politischen Rechte einige Details zum Gebrauch des Konstruktiven Referendums regelt und so einigen kritischen Befürchtungen entgegenwirkt. So könnten pro Volksabstimmung maximal zwei Konstruktive Referenden zugelassen werden und auch dies nur dann, wenn sie einander entscheidungstheoretisch nicht stören. Kommen mehr zustande, so müssten diese dann nach einander in verschiedenen Urnengängen entschieden werden. Auch könnten die Fristen verlängert werden, wenn die vom Verfassungsrat vorgesehenen sich als zu knapp erweisen, wie dies das Kommissionssekretariat des Kantonsrates zu glauben scheint (siehe den Artikel von Emanuel Brügger und Moritz von Wyss, Parlament und konstruktives Referendum: Aktuelle Diskussion im Kanton Zürich, in Parlament Nr. 1/2011, 12 .Jahrgang vom März 2011, p. 29 und 30).

14.
Doch die Volksrechte sind als Rückgrat der Direkten Demokratie zum Wohle des Bürgers zu konzipieren und nicht zur Vereinfachung der parlamen­ta­ri­schen Existenz. Wem die Macht der Bürger in einer Direkten Demokratie zu mühsam ist, der kann durchaus auf den Sitz im Kantonsrat verzichten. Das Konstruktive Referendum steht ganz im Zeichen der Bestimmung, die in der neuen Verfassung die Rolle des Parlamentes definiert, wie die oben zitierten Parlamentssekretäre festhalten. Es abzuschaffen, würde die Qualität der im Kanton Zürich von den meisten Bürgerinnen und Bürgern geschätzten Direkten Demokratie abbauen und diese überhaupt in Frage stellen.

15.
Dies können wir am 23. September verhindern, indem wir mit der SP, den Grünen, den Grünliberalen, den Jungfreisinnigen und der EVP die Ab­schaffung dieses jungen Volksrechtes, das sich bereits bewährt hat, verhindern und die entsprechende Streichung in der neuen Verfassung ablehnen.


Kontakt mit Andreas Gross



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