Januar 2012
NZZ
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Politisch und gesellschaftlich
relevante Treffpunkte der Schweiz:
Das Kreuz in Solothurn
Von Davide Scruzzi
Hier heisst der Tresen «schwarzer Balken» und kurz vor 18 Uhr kann es eng werden. «Ins Kreuz geht heute jeder», heisst es in den Gassen Solothurns – am Balken steht aber weiterhin nur, wer dazu gehört oder dazu gehören will. Früher war die Luft im holzgetäferten Lokal an der Aare freilich anders, nicht nur weil geraucht werden durfte. Die Genossenschaftsbeiz war als Nachfolgebetrieb eines Gasthauses mit Rotlicht-Bereich zuerst eine Absteige für Randständige, erzählt ein Künstler am Balken. Aus diesem Grund wurde das Haus durch einen bürgerlichen Wohltätigkeits-Verein erworben. Als erste Genossenschaftsbeiz der Schweiz wurde das Lokal ab 1971 zum links-alternativen Treffpunkt. Vor 30 Jahren wurde hier – unter anderem weil für viele Regionen gleich weit entfernt – die Gesellschaft für eine Schweiz ohne Armee (Gsoa) gegründet. Mit der Armee-Abschaffungsinitiative wurde Mitte der 1980er-Jahre vom Kreuz aus der heftigste Schuss gegen das Militär im Kalten Krieg abgefeuert. Das Volk lehnte die Vorlage ab, die Armee überlebte schwer verletzt und das Kreuz mit seiner langhaarigen Garde erhielt einen festen Platz auf der politischen Landkarte der Schweiz.
Herr Gross, mit dem Kreuz dürften Sie ja als Gsoa-Gründervater wohl durchaus Erinnerungen verbinden. ... Gab es neben der verkehrstechnischen Lage einen besonderen Grund, weshalb die Gsoa in Solothurn im Kreuz gegründet worden ist?
Andreas Gross: «Die Gründung der GSoA (Gruppe, nicht Gesellschaft), beziehungsweise die Suche nach dem adäquaten Gründungsort mit der richtigen Symbolkraft, war im Frühjahr und Sommer 1982 eine eigentliche Leidensgeschichte für sich: Zuallererst wollten wir dies im Bären zu Kiental im Berneroberland machen, denn dort tagte mitten im 1. Weltkrieg die sozialistische Anti-Kriegs-Allianz, was sachlich ein schönes Symbol hergab - mitten in den Alpen -, doch als der Wirt merkte, dass wir keine Stündeler waren, wollte er uns nicht mehr beherbergen. Rückblickend bin ich ihm sogar dankbar; denn Lenin, der 1915 in Kiental auch dabei war, wäre mir eine zu grosse Belastung geworden.
Dann dachten wir ans Rütli, was uns recht gewesen wäre, weil wir nicht gegen die Schweiz, sondern bloss für eine andere Schweiz kämpf(t)en. Doch auch dies wurde uns ganz offiziell nicht gestattet von der zuständigen Trägerschaft. – Wenn schon nicht der Ort, der uns das patriotische Herz erwärmt, dann eben der kälteste Ort der Schweiz, La Brévine, im Neuenburger Jura, dachten wir als nächstes. Doch auch dort fürchtete der Wirt um seine traditionelle Kundschaft und sagte uns ab.
Und dann erst kamen wir aufs Solothurner Kreuz. Nicht wegen der geographischen Lage, sondern vielmehr weil es als erste alternative Genossenschaftsbeiz in der Schweiz eine «Insel der Zukunft» war, wie das berühmte Buch aus der zweiten Hälfte der 1970er Jahre im Geiste Otto F. Walters hiess. Wir empfanden uns im Sinne von Ernst Bloch als «Vorschein der Zukunft», und da war uns das Kreuz recht. Diese Wahl sollte sich als richtig erweisen, denn Ende der 1980er Jahre brachte die GSoA all jene vielen hinter einem Ja (über eine Million! bei über 70 % Stimmbeteiligung) zusammen, die irgendwie mal einen Teil zu einer alternativen Schweiz beigetragen hatten oder dies noch tun wollten - und seit Bestehen des Kreuz sicher einmal dort eingekehrt waren und sich dort zu Hause gefühlt haben.
Dass uns die Gründung dann sogar noch am 12. September 1982 gelang, war ein zusätzliches Symbol für sich, wurde doch am 12. September 1848 auch die erste Bundesverfassung der modernen Schweiz von einer Mehrheit der Schweizer angenommen - einer der ersten Bundesräte, Henry Druey, hatte dies als «gelungene Utopie» bezeichnet – und diese utopische Tradition wollten wir erneuern!
So können einen auch eher triste Ab- und Wegweisungen an den richtigen Ort lenken.»
Kontakt mit Andreas Gross
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