3. November 2011
Maturaarbeit
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Direkte Demokratie, Menschenrechte, Europa, Verfassungsgericht, Diktatur der Mehrheit ...
Direkte Demokratie im Mail-Gespräch: ag antwortet auf 25 Fragen eines Maturanden.
Sehr geehrter Herr Gross, in einem Interview vom 26. Februar behaupten Sie, der schweizerischen Demokratie ginge es «ausserordentlich schlecht». Auf dem Demokratiebarometer des Zentrum für Demokratie Aarau rangiert die Schweiz allerdings auf Platz neun der 30 besten Demokratien. Wer hat nun recht?
Es geht hier nicht um das Recht haben, zumal Sie Äpfel mit Birnen vergleichen. Die Ratings vergleichen das Design der Demokratie und deren demokratische Substanz, da wird die CH sogar meist zu schlecht platziert meines Erachtens, weil das Partizipative zu wenig stark gewichtet wird gegenüber dem passiven Rechtsschutz; ebenso wird das Gewicht der Direkten Demokratie unterschätzt. In meiner Beurteilung geht es um den Zustand der Demokratie, um den Stand der Praxis und da steht es tatsächlich schlecht.
Sie sagen des weiteren, Qualität einer Demokratie beweise sich dadurch, dass der Bürger Gehör finde und ob er seine Werte und Interessen in politischen Entscheiden wiedererkennt. Nun, es sind mindestens 4 grosse Volksinitiativen teils überwältigend angenommen worden. Geht es nun unserer Demokratie schlecht?
Eine angenommene Volksinitiative ist noch kein Qualitätszeichen. 7:0 Tore sagen ja auch wenig über die Güte eines Fussballspiels aus, ausser dass eine Mannschaft eine ausserordentlich schlechte Verteidigung hatte. Zumal einige der von ihnen angesprochenen VI die Menschenrechte verletzen, die Demokratie also auf die Mehrheitsregel reduziert und die Rechte von Minderheiten malträtiert werden, was katastrophal ist für die Demokratie. Sie müssen also schon tiefer schürfen, um der Qualität auf die Spur zu kommen. Sie müssen die öffentliche Diskussion beispielsweise beurteilen, wer sich da Gehör verschaffen konnte, wie auf die Argumente der anderen eingegangen wird, ob Widerspruch und Gegenrede möglich waren: Denn die Qualität des Ergebnisses hängt ganz wesentlich davon ab, wie dieses zustande gekommen ist.
Sie prangern vor allem an, dass «Freiheit» zu einem Privileg von ein paar Wenigen geworden sei. Wie steht es insgesamt mit den drei Demokratieprinzipien Freiheit, Gleichheit und Kontrolle?
Die Kontrolle ist kein Demokratieprinzip. Sie meinen wohl die Rechtstaatlichkeit oder die Brüderlichkeit oder, moderner, die Solidarität, die beide in Ihrer Aufzählung fehlen: Mit der Gleichheit, auch in Form der Chancengleichheit, steht es ebenso schlecht in der Schweiz; die echten Lebenschancen sind sehr ungleich verteilt, es gibt wenige Reiche, die sehr viel mehr von der Gesellschaft nehmen als sie ihr zurückgeben. Punkto Solidarität steht es in der Schweiz besonders schlecht, wir überlassen zu viele ihrem Schicksal und tun zu wenig, um niemanden fallen zu lassen. Und in Sachen Rechtstaatlichkeit fehlen tatsächlich verfassungs-gerichtliche Garantien und Schutzmechanismen: Sie sehen, die realexistierende Demokratie kann einen nicht froh machen. Zumal wenn es um das demokratische Versprechen geht: Von einer fairen und gerechten Verteilung der Lebenschancen sind wir Lichtjahre entfernt.
Die SP prangert gerne den Kapitalismus an. Haben diese Verschiebungen auch etwas mit dem Kapitalismus zu tun, den die SP ja nicht als letzte und endgültige Entwicklung der Menschheit ansehen will?
Gewiss. Es gibt plausible Gründe für die These, wonach Kapitalismus und Demokratie einander widersprechen. Denn der Kapitalismus beruht auf Prinzipien, die wenig demokratisch sind. Kapital ist privilegiert, Arbeit benachteiligt, auf nicht ökonomische Aspekte des Lebens und der Menschen wird nicht Rücksicht genommen, der Profit geht über alles, die Natur geht kaputt, die Gier wird befördert statt die Solidarität belohnt u.v.a.m.
A propos Freiheit etc. Was entgegnen Sie einem Verfechter uneingeschränkter Volksrechte, der das letzte Wort auf jeden Fall beim Bürger haben will?
Man müsste mit ihm zuerst sein Verständnis von Freiheit klären. Die Freiheit des einen hört dort auf, wo die des anderen beginnt. Freiheit hat mit Egoismus nichts zu tun. Deshalb gibt es keine absolute Freiheit und keine absolute Macht in einer Demokratie. Kein Bürger hat das Recht, die Grundrechte eines Anderen zu negieren. Auch mit einer Mehrheit nicht. Denn die Demokratie ist viel mehr als die Tyrannei der Mehrheit.
Beschuldigen Sie, indem Sie ein Verfassungsgericht fordern und die Übereinstimmung von Initiativen mit Völkerrecht, nicht einen grossen Teil des Schweizerischen Stimmvolkes Demokratie nicht verstanden zu haben, wenn nicht sogar zu Mehrheitstyrannen geworden zu sein?
Ich beschuldige gar niemanden. Ich stelle einfach fest, dass viele Schweizer sehr schnell zu Mehrheitstyrannen werden und sich viel zu wenig um die Demokratie gekümmert haben in den letzten Jahrzehnten. Deshalb geht es ihr auch so schlecht. Auch das Wissen um die Demokratie ist wenig verankert und vertieft; sonst hätten die Frauen nicht so lange auf die Demokratie warten müssen bei uns, sonst wüssten wir, dass wir Europa brauchen für eine starke Demokratie, sonst würden wir die Demokratie nicht zu einem Privileg derjenigen mit dem Roten Pass machen, sonst würden wir Parlamentarier mehr schützen vor Privat- und Sonderinteressen, die Parteien besser ihre Arbeit machen lassen, für transparentere und fairere Wahlen und Abstimmungen sorgen u.v.a.m.
Wie soll mit den bereits angenommenen Initiativen, welche nicht menschenrechtskonform sind, umgegangen werden?
Erstens dürfen solche VI nicht zur Abstimmung kommen. Dazu gilt es die Verfassung zu präzisieren. Bezüglich der Vergangenheit müssen wir sie in menschenrechtskonforme Gesetze umsetzen und mittelfristig aber auch die Verfassungsbestimmungen so präzisieren, dass sie nicht menschenrechtsfeindlich ausgelegt werden können. Alles andere ist einem demokratischen Staat nicht würdig.
Sind für Sie internationales Völkerrecht und die EMRK wirklich absolute Werte, welche nicht angetastet werden dürfen? Man könnte doch auch annehmen, da diese menschengemacht sind, sie seien somit potentiell fehlerhaft? Und woher nehmen Sie Ihre Überzeugung?
Nichts ist absolut. Und die EMRK und das Völkerrecht sind nicht das gleiche. Doch die EMRK gilt und der Gerichtshof auch; und die Gefahr, dass wir fehlerhaft sind ist grösser als das Risikopotential der EMRK .
Sehen Sie einen Mittelweg, einen gutschweizerischen Kompromiss, um Selbstbestimmung eines Volkes und Bevormundung durch übergeordnetes Recht?
Für einen richtigen Kompromiss müssen Sie erst einmal den Konflikt verstehen und richtig bezeichnen. So ist die EMRK keine Bevormundung wie Sie behaupten. Und die Selbstbestimmung der BürgerInnen ist auch nicht das gleiche wie die Volkssouveränität. Und nichts ist absolut sondern geschieht heute in einem Rahmen, den wir uns selber gesetzt haben durch unsere Verfassung. Schliesslich liegt der Kompromiss immer im Konkreten und lässt sich nicht so abstrakt finden, wie Sie dies zu versuchen scheinen.
Was bewirkt ein Gesetz zur Offenlegung der Parteikassen?
Transparenz über Umfang und Herkunft der vorhandenen Mittel und Ressourcen.
Fordern Sie dies nur um eine andere oder zwei Parteien, die angeblich mehr finanzielle Unterstützung erhalten, zu schwächen?
Nein. Es geht um alle und um transparente und faire Wettbewerbsbedingungen in der demokratischen Auseinandersetzung. Es geht um die Stärkung aller Parteien und beteiligten Akteure. Schwächer als die schweizerischen Parteien sind keine Parteien.
Der Bundesrat sieht keinen Handlungszwang, da ein Kausalzusammenhang zwischen Spenden und Abstimmungsausgang nicht gegeben sei. Sie sehen das anders?
Selbstverständlich gibt es keine absolute Kausalität. Nicht jeder, der ein Rotlicht missachtet, tötet einen anderen. Doch es kann passieren, deswegen pflegen wir die Roten Lichter zu beachten. Und: Wenn keine Wirkung erzielt werden würde, würde nicht so viel Geld ausgegeben. Bei den Wahlen 2011 doppelt so viel als vier Jahre zuvor. Mit Geld werden Stimmungen gemacht, emotionale Teppiche gelegt, Leute eher auf Sendung oder Empfang gestellt, Aufmerksamkeit erregt oder verdeckt – der Bundesrat schaut zu wenig genau hin, analysiert zu wenig tiefschürfend – wohl weil er die Konsequenzen scheut, die ein sorgfältiges Hinsehen mit sich ziehen würde. Alle anderen Demokratien in der Welt, die entsprechende Gesetze haben, liegen wohl falsch und nur wir richtig?
Gewinnen denn heute nicht die besten Argumente, sondern wer sie am besten den Bürgern eintrichtern kann?
Argumente werden nie eingetrichtert. Der Bürger ist keine Flasche. Doch werden viele Argumente von zu vielen gar nicht gehört, anderen Argumenten wird zu wenig widersprochen und vor allem sind zu viele Argumente für zu wenige hörbar. Die Qualität der öffentlichen Diskussion liegt vor allem in der deutschen Schweiz tatsächlich im argen, ist viel zu exklusiv und deren Verbesserung entscheidend für die Qualität der Direkten Demokratie.
Wenn Sie Propaganda als einflussreich bezeichnen würden, ist dann der Bürger Ihnen zufolge überhaupt urteilsfähig?
Die politische Urteilsfähigkeit der Bürger ist das grösste Ziel der politischen Bildung und die schwierigste Eigenschaft eines mündigen Bürgers. Ich glaube tatsächlich, dass sie in der Schweiz höher ist als anderswo, dass wir uns aber noch massiv steigern müssen.
Oder wie erklären sich die Erfolge der SVP?
Dies lässt sich nicht in wenigen Sätzen darlegen. Sonst wäre es anders. Ich verweise Sie dazu auf die sechs Bücher, die ich seit 1995 zur Beantwortung dieser Frage mitherausgegeben habe. Auf jeden Fall weiss die SVP aus vielen Unzulänglichkeiten, die wir in diesem Gespräch erörtert haben bisher, für sich zu profitieren.
Wenn es ab und an keinen Kompromiss geben darf, wieso sollte man dann noch eine Demokratie bleiben und nicht zum Beispiel eine Regierung der Weisesten oder einen Philosophenkönig einführen?
Ich habe mich noch nie gegen Kompromisse ausgesprochen. Und ich bin auch der Meinung, dass die möglichst feine Verteilung der Macht auf möglichst alle Menschen der beste Schutz gegen Machtmissbrauch und der wahrscheinlichste Weg zu einer guten Ordnung ist.
Das Volk weiss ja nicht immer alles, was ihm gut tun würde und was recht und gut ist.
Niemand weiss immer alles am besten. Doch wir alle können viel mehr lernen. Da haben wir noch riesige Potenziale, die wir besser nutzen sollten.
Die SP hält am Ende ihres Parteiprogramms fest, sie sei «die Partei der Direkten Demokratie». Ich kann mir die Gegenstimmen leicht vorstellen. Was sagen Sie dazu?
Ich finde ausnahmsweise hat die SP hier sogar recht. Es gibt keine Partei, die sich seit 1888 derart für die und mit der DD eingesetzt hat auf allen Ebenen und auch dafür sorgte, dass sie immer wieder weiterentwickelt und verbessert wird.
Es gibt eine Theorie von J.S.Mill, die besagt, in einer Demokratie soll jeder, auch der mit der abwegigsten Idee, am gesellschaftlichen Diskurs teilhaben, gerade weil dann die andern gefordert sind, bessere Argumente zu finden – gelingt dies der SP zu wenig, oder warum der Schrei nach einem Verfassungsgericht, wenn die SVP Initiativen gewinnt?
Erstens sind viele SPler aus grundsätzlichen Erwägungen für einen Ausbau der Bundesverfassungs-gerichtsbarkeit, völlig unabhängig von der SVP. Es ist aber möglich, dass einige, die sich nicht breit abgestützt informieren, von diesen Vorschlägen vielleicht bloss im Zusammenhang mit Volksinitiativen aus der SVP-Küche vernehmen. Zweitens hat der Mill völlig recht; nur fehlt uns heute je länger desto mehr der Ort und die Orte, wo diese Auseinandersetzungen, von denen wir alle profitieren würden, noch stattfinden können. Dies ist eines unserer ganz grossen Defizite.
Die SP hat in ihrem Parteiprogramm den «demokratischen Sozialismus» als eine Zukunftsvision festgehalten. Ist dieser Begriff nicht ein Paradoxon, und was bedeutet er konkret?
Er kann tatsächlich als paradox verstanden werden. Doch viele verkennen eben den Sozialismus, weil sie meinen, es hätte ihn schon mal irgendwo gegeben. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, brauchen einige noch dieses Adjektiv, dass tatsächlich eigentlich unnötig wäre. Sozialismus meint möglichst viel echte Freiheit für alle, Gewaltfreiheit und Respekt. Und eine starke Demokratie, ohne die Sozialismus nicht möglich ist.
Ferner hat die SP «Verteilungsgerechtigkeit» und «Umverteilung» in ihrem Parteiprogramm stehen. Wie demokratisch sind diese Vorstellungen und wie sind sie auf demokratischem Weg umzusetzen?
Beides lässt sich nicht abstrakt festlegen, sondern nur demokratisch erreichen. Und so bestimmt der Weg das Mögliche. Und gleichzeitig zeigt sich so auch das Unvollendete des Gegenwärtigen. Wir können vieles noch viel besser machen – aber nur miteinander.
Die SP steht für die Stärkung des Föderalismus ein und will diesen gleichzeitig um eine Ebene, die europäische, ergänzen. Häufig sieht sich die EU aber mit dem Vorwurf, sie sei nicht demokratisch organisiert, bürgerfern, zentralistisch, konfrontiert. Wie passt dies mit dem Entwurf der Schweizerischen Demokratie zusammen?
Auch diese Frage habe ich in neuesten Büchern mit der gebotenen Ausführlichkeit beantwortet. Die EU braucht tatsächlich mehr Demokratie , Dezentralität, Bürgermitbestimmung etc., alles auf der Basis einer föderalistischen Bundesverfassung. Gleichzeitig braucht die Demokratie aber auch Europa, weil sie ihr Versprechen nur auf der gleichen Ebene wie die transnationalen Märkte realisieren kann. Deshalb müssen Europäer heute für Reformen sein und Schweizer Demokraten müssen ja sagen zur EU und diese gleichzeitig reformieren. Dann passt vieles bestens, weit besser, als sich dies viele Schweizer vorstellen, denn sie haben sich mit der EU wie auch der eigenen Demokratie viel zu wenig auseinandergesetzt.
«Unsere Bewegung muss die Grenzen der Nationalstaaten sprengen …», dies ist ein Auszug aus dem SP-Parteiprogramm - und ein Bekenntnis zur Abschaffung der Schweiz?
Die Kantone haben 1848 auch ihre Grenzen gesprengt und es gibt sie bis heute. Ich kann mich über die kurzatmige Dichotomie ihrer Frage(n) nur wundern. Grenzen sprengen hat mit Abschaffung des Eigenen nichts zu tun.
In einer Rede vom 27. Februar diesen Jahres zum Islamdiskurs sagten Sie, die direkte Demokratie sei ein Menschenrecht. Können Sie dies ein wenig ausführen?
Der Kern ist immer die Würde des Einzelnen. Die Menschenrechte garantieren diese Würde. Gleichzeitig widerspricht die Fremdbestimmung der Würde des Menschen. Deshalb ist die Selbstbestimmung, mithin die DD, Teil dessen, was die Menschenrechte schützt, beziehungsweise beinhaltet.
Inwiefern ist Demokratie auch Toleranz gegenüber Intoleranz?
Toleranz ist bereits eine Herrschaftskategorie. Es geht viel mehr um Respekt. Und Respektlosigkeit erwidert sich nicht mit Respektlosigkeit. In einer Demokratie kann man auch mit Undemokraten nicht undemokratisch umgehen. Die demokratischen Ansprüche gelten auch für jene, die sie sich nicht zu eigenen machen. Sonst hat sich die Demokratie bereits aufgegeben. Dies hat aber mit Fatalismus und Kapitulation nichts zu tun. Es illustriert aber den hohen Anspruch der Demokratie und die Umsicht, die sie von Demokraten erfordert.
Angewendet auf den Islam, oder auch die SVP, heisst das was?
Erstens sind dies zwei ganz verschiedene Dinge. Der Islam ist eine Religion, die gleich behandelt werden muss wie irgendeine andere Religion. Die SVP eine Partei, mithin die grösste. In einer Demokratie sind im übrigen Gedanken frei, auch dumme und falsche. Reagiert wird auf Aussagen, sanktioniert werden Handlungen. Sie müssen nach den geltenden Gesetzen beurteilt und geahndet werden – nicht von Politikern, sondern von Gerichten und Richtern. Das gilt für Religionen wie für Parteien, das gilt auch für Sie und für mich.
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