25. Sept. 2011

Editions le Doubs

Mehr, nicht weniger, und vor allem eine neue Politik ist notwendig


Beitrag zu: Andreas Gross, Fredi Krebs, Dani Schönmann, Martin Stohler - Über den Herbst hinaus. Innenpolitische Alternativen mit europäischer Perspektive, Editions le Doubs, 256 Seiten (hier: S. 237-241), St-Ursanne 2011. Das Buch wird am 30. September in Bern und am 1. Oktober um 17 Uhr im Nasobem in Basel der Öffentlichkeit vorgestellt.

Von Andreas Gross

In Nordafrika und Arabien haben die meisten genug. Obwohl dies in Diktaturen ein immenses Risiko für Leib und Leben bedeutet, sind sie aufgebrochen, verteidigen ihre Würde und kämpfen vehement, aber kreativ und gewaltfrei für ihre Freiheit und die Demokratie.

Auch bei uns haben zwar ganz viele genug von all den Katastrophen und sogenannten Krisen. Doch anders als in den Ländern des arabischen Frühlings ist hier wenig von Aufbrüchen zu spüren. Viele scheint eine Art angespannte resignative Lethargie erfasst zu haben. Jedenfalls ist kaum neues Engagement für mehr Demokratie und für die Wahrung der Freiheit erkennbar.

Was derzeit weltwirtschaftlich, währungspolitisch, staatsverschuldnerisch und gesamteuropäisch passiert, ist nichts anderes als ein enormer Freiheitsverlust. Bedeutet Freiheit doch politisch weit mehr als das Auswählen-Dürfen zwischen einem beschränkten Angebot. Freiheit bedeutet, dass das Leben nicht länger Schicksal ist. Dass wir gemeinsam unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen bestimmen, gestalten und gewährleisten können. Dafür ist die Demokratie eingerichtet worden.

Was derzeit alles passiert, deutet auf das genaue Gegenteil hin. Der Bundesrat weiss kaum mehr, was zu tun ist, um die Zukunft der Exportindustrie zu sichern. Der Wert des Frankens kann von der Schweizer Nationalbank nur mehr sehr beschränkt beeinflusst werden. Als Akteur gilt der Markt. Kein Subjekt, bloss ein Medium, das nicht selber handeln kann; ein Markt, an dem Tausende von Akteuren tätig sind, die niemand kennt, die niemandem Rechenschaft ablegen, die keinerlei Verantwortung tragen, egoistischen Interessen folgen und sich einen Deut um Gemeinsinn und Allgemeininteresse scheren.

Demokratische Macht transnational zurückgewinnen

Am ehesten kennen wir unter diesen anonymen Markthändlern noch die Banken. Diejenigen, die sich von so manchen Staaten vor drei Jahren mit vielen Dutzenden von Milliarden Franken, Euros und Dollars retten liessen. Jetzt privatisieren sie wieder Milliardenprofite, während diese Staaten heute kein Geld mehr haben für die drängendsten Sozialleistungen, Infrastrukturen und Unterstützung für die Ärmsten. Was wiederum die Banken und deren Agenturen die Kreditwürdigkeit dieser Staaten herabsetzen lässt, was diese Milliarden zusätzliche Zinsen kostet, freilich das Geschäft der Banken schmiert und wieder mehr Geld in deren Kassen spült.

Die meisten unter uns scheinen sich angesichts dieses Unrechts resigniert abzuwenden. Je grösser das Unrecht, das geschieht, umso indignierter scheinen sie zu resignieren. Sie merken durchaus, wie machtlos die Demokratie geworden ist; doch sie können nicht erkennen, dass diese Macht zurückgewonnen werden könnte auf einer anderen, nämlich transnationalen Ebene, sofern viele dafür etwas tun würden - und so hält niemand die Erosion der demokratischen Macht auf.

Sie reden vom Ende der Politik und sehen nicht, dass nur eine andere Politik ihnen die Freiheit zurückgeben kann, die sie missen - eine andere Politik, die ihr Engagement erfordert, damit sie Erfolg haben kann.

Ein anderer fast ebenso grosser Teil unter uns fühlt sich mit seinen Ängsten und Sorgen noch mehr allein gelassen. Zur Resignation fehlt diesen WählerInnen die Gelassenheit, vielleicht auch nur der Zynismus. Und so wenden sie sich denen zu, die simple Erklärungen und Sündenböcke anbieten: die Anderen, die Fremden, denen es noch dreckiger geht.

Eine starke Demokratie kann alle Akteure zwingen, die Interessen aller zu beachten

Diese Menschen erliegen der Bewirtschaftung ihrer Ängste durch Millionäre und Milliardäre. Die von ihnen Gewählten fassen in den Parlamenten Beschlüsse, die den Interessen ihrer WählerInnen widersprechen und nur deren Ärger und Enttäuschung mehren - und sie noch eher die Falschen wählen lassen, wogegen diese natürlich nichts einzuwenden haben.

Doch weder die Abwendung von der Politik noch der Rückzug ins Schneckenhaus der Nation noch die Bewirtschaftung von Ängsten und Sündenböcken werden uns irgendwie helfen. Helfen kann nur ein Aufbruch unsererseits zu neuen transnationalen Horizonten unter Mitnahme der Ansprüche, welche kein Staat alleine heute mehr realisieren kann.

Die Demokratie kann ihre Macht nur auf der gleichen Ebene zurückgewinnen, auf der auch die Finanzmärkte angesiedelt sind. Nur dort, durch transnationale kontinentale und schliesslich auch globale Verfassungen, können wir uns jene Kraft und Legitimation verschaffen, die wir brauchen, um Regeln zu definieren, welche alle Akteure zwingen, minimale Grundsätze im Interesse aller zu beachten.

Neue Motivationen und neue Allianzen

Das geht nicht ohne Politik. Das geht nicht ohne die Anderen. Das geht nicht mit den alten nationalen und elitären Handlungsweisen. Dazu braucht es das berühmte neue Denken, neue Horizonte, neue Motivationen und neue Allianzen. Das Unrecht kann nicht überwunden werden, wenn diejenigen, die es erkennen, sich abwenden und diejenigen, die am meisten darunter leiden, sich reaktionären Falschmünzern andienen. Wir brauchen sie alle, um uns gegen jene wenigen durchsetzen zu können, die es anders nicht wollen, weil es ihnen egal ist, wenn die meisten leiden, resignieren und sich abwenden und die Freiheit zu einem Privileg ganz weniger Privilegierter zu werden droht.

Wenn es in Diktaturen vielen gelingt, die wenigen vom Missbrauch ihrer Macht abzuhalten und sich der Würde der Menschen zu erinnern, weshalb sollte uns dies nicht mit Herrschaften gelingen, die sich zumindest formal der Demokratie unterziehen?

Diese Frage eines Leitartiklers der Zeitung Le Monde vom Frühling dieses Jahres ist auch im Herbst 2011 noch nicht beantwortet. Weder in der EU noch in der Schweiz. Aber es ist auch bei uns noch nicht zu spät. Am 23. Oktober bietet sich eine wichtige Gelegenheit.

Handeln müssen wir alle aber auch zuvor und danach.


Kontakt mit Andreas Gross



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