24. Sept. 2011

Editions le Doubs

Mehr Direkte Demokratie wagen bedeutet viel mehr und ganz anderes als die Wahl der Regierung


Beitrag zu: Andreas Gross, Fredi Krebs, Dani Schönmann, Martin Stohler - Über den Herbst hinaus. Innenpolitische Alternativen mit europäischer Perspektive, Editions le Doubs, 256 Seiten (hier: S. 207-210), St-Ursanne 2011. Das Buch wird am 30. September in Bern und am 1. Oktober um 17 Uhr im Nasobem in Basel der Öffentlichkeit vorgestellt. Von Andreas Gross

Zu den Wesensmerkmalen der Direkten Demokratie gehört, dass die Bürgerinnen und Bürger direkt über Sachvorlagen und Inhalte entscheiden können. Die Wahl von Personen in Parlamente oder Regierungen gehört stattdessen zur indirekten Demokratie: Bürger wählen in der indirekten oder repräsentativen Demokratie Abgeordnete, die an ihrer Stelle in Parlamenten oder Exekutiven über Sachvorlagen beschliessen. Deshalb hat die Direktwahl der Regierung durch das Volk viel mit der indirekten und nichts mit der Direkten Demokratie zu tun.1 Dies gilt auch trotz der bekannten Einsicht2, dass die Direkte Demokratie immer auch einen indirekten Teil umfasst, das heisst auf ein Parlament nicht verzichten kann.

Diese Unterscheidung ist wichtig. Denn der Charakter einer Diskussion und einer Entscheidung über Personen und deren (Aus-)Wahl unterscheidet sich vom Charakter einer Diskussion über Sachvorlagen und Sachfragen fundamental. So ist die Antwort auf die Frage, weshalb man einer Person vertrauen kann und einer anderen nicht, ungleich schwerer und vor allem weniger rational zu begründen als der Entscheid zwischen unterschiedlichen Gesetzesbestimmungen oder Sachvorlagen. Ein weiterer Punkt besteht im Lernpotenzial bei sachbezogenen Entscheiden und der Sachkompetenz, die man sich durch eine Sachdebatte im Unterschied zu einer Personenauswahldiskussion aneignen kann.

Abstimmungen sind wichtiger und beliebter als Wahlen

Das Wissen um diesen fundamentalen Unterschied mag in der Schweiz nicht sehr verbreitet sein. Doch es ist alt. Schon 1868 meinte beispielsweise der Sozialdemokrat Karl Bürkli im Kampf um die direktdemokratische Revolution des Kantons Zürich, auch die schwierigste Sachfrage sei oft einfacher zu verstehen als eine Person - denn Personen könnten ihre Meinung schnell ändern, vor allem einmal gewählt und im Amt, während die Sachfragen auch nachher die gleichen seien. Und dies meinte er zu Zeiten, die noch keine Farbfotos, Fernsehshows und PR-Kampagnen kannten.

Recht hat Bürkli bis heute. Viele Menschen wollen die Demokratie nicht auf das Vertrauen in einige Personen oder eine Partei reduzieren. Vielmehr vertrauen sie auf die eigenen Fähigkeiten, Einsichten und sind bereit, sich auch auf komplizierte Zusammenhänge einzulassen. Sie fordern einiges, lassen sich aber auch durch schwierige Frage herausfordern. Das macht weltweit die zunehmende Beliebtheit der Direkten Demokratie aus. In der Schweiz zeigt sich dies daran, dass die Beteiligung an Volksabstimmungen mittlerweile höher ist als die Beteiligung an Wahlen.

Wer in diesem Sinne die Direkte Demokratie demokratisieren, das heisst stärken, verfeinern und die Beteiligung weiter steigern will, der darf nicht die Personenwahlen erweitern und somit die Politik weiter personifizieren, simplifizieren, skandalisieren und zu permanenten seichten Castingshows verkommen lassen. So würde die Macht der Demokratie und der Demokraten weiter geschwächt und die Politik zugunsten der Wirtschaft und der Finanzmärkte entmachtet, die Herrschaftlichkeit der öffentlichen Ordnung gestärkt und nicht abgebaut.

Der Ruf nach der Stärkung der Direkten Demokratie ist möglicherweise auch so populär, weil sich im Bundeshaus viel zu wenige - im Bundesrat seit 12 Jahren keiner mehr - um die Direkte Demokratie kümmern. Das sieht man ihr auch an, und deshalb beginnen auch so manche, ihr enttäuscht den Rücken zu kehren - was wiederum der Herrschaftlichkeit dient und deren Abbau entgegenwirkt.

Wichtige Reformen zur Stärkung der Direkten Demokratie

Um der Abkehr vom politischen Engagement entgegenzuwirken und um die Direkte Demokratie zu stärken, ist nicht die Volkswahl des Bundesrats angesagt, sondern eine Reihe von Reformen auf Bundesebene, vor allem in den sechs folgenden Bereichen:

1. Das Instrumentarium der Direkten Demokratie muss auch auf Bundesebene dringend verfeinert und ähnlich der Differenziertheit in den Kantonen erweitert werden. Dabei ist in erster Linie an die Einführung der Gesetzesinitiative und des Konstruktiven Referendums zu denken.

2. Die Volksentscheide, bisher im Bund immer Verfassungsentscheide, müssen gegenüber dem Parlament und der Regierung besser geschützt werden. Deshalb braucht es eine beschränkte Erweiterung der Bundes-Verfassungsgerichtsbarkeit.

3. Es dürfen nicht länger Volksabstimmungen durchgeführt werden, bei den es möglich ist, dass der Mehrheitswillen nicht verwirklicht werden kann. Das würde die Direkte Demokratie bloss diskreditieren und liesse sie ihre Integrationskraft verlieren. Die Ungültigkeitsgründe für eine Volksinitiative müssen um die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erweitert werden. Wer eine Reform befürwortet, welche der EMRK widerspricht, muss erst durch eine Volksinitiative deren Kündigung verlangen.3

4. Der fatale Eindruck, die Schweizer Demokratie sei käuflich und das Geld regiere auch die Schweizer Volksentscheide, darf nicht weiter um sich greifen. Es müssen Fairnessregeln und Ausgleichsmechanismen eingeführt werden, welche die Ungleichheit der Ressourcen bei Abstimmungen und Wahlen in der Schweiz begrenzen. Dafür müssen Mittel bereitgestellt werden, die benachteiligte Akteure bei ihren Bemühungen unterstützen, sich ebenfalls öffentliches Gehör zu verschaffen. Dazu ist die Transparenz aller bei Abstimmungen und Wahlen verwendeten Geldmittel freilich eine wesentliche Bedingung.4

5. Ganz generell muss auch in der Schweiz, gerade in einer Direkten Demokratie, in deren politische Infrastruktur investiert werden. Wenn der Markt in relevanten öffentlichen Räumen keine qualitativ anspruchsvollen Zweit- und Konkurrenzmedien ermöglicht, dann muss die öffentliche Hand hier wie in Skandinavien aushelfen. Heute ermöglicht der Markt je länger, desto weniger die demokratiegerechten Öffentlichkeiten, was die Demokratie in Frage stellt - hier gilt es, Gegensteuer zu geben.5

6. Bund und Kantone müssen auch viel mehr in die politische Bildung aller Bürgerinnen und Bürger investieren, und zwar von Schülern und Lehrlingen ebenso wie von Erwachsenen. Familie und Schule können dies nicht mehr automatisch leisten. Daher ist auch die Schaffung von Gutscheinen für politische Bildung oder von kommunalen Demokratiehäusern, in denen die notwendige Infrastruktur für das öffentliche Engagement bereitsteht, ins Auge zu fassen.

Mit solchen Reformen könnten die Position und die Kompetenz der sich engagierenden Bürgerinnen und Bürger, deren Beteiligungsmöglichkeiten sowie die Seele der Direkten Demokratie, die öffentliche Debatte, die nachdenkliche und reflexive Diskussion (Deliberation)6 qualitativ gestärkt und noch besser in allen gesellschaftlichen Schichten verankert werden: Alles dringliche Prioritäten für alle, denen die Zukunft der Direkten Demokratie wirklich am Herzen liegt.


1 Dass der Bürger und Bauer Toni Brunner aus dem Toggenburg, Nationalrat und Präsident der SVP, bei der Einreichung der SVP-Initiative für die Volkswahl des Bundesrats im Juli 2011 das Gegenteil behauptet hat, zeigt nur, wie unklar selbst die zentralsten Begriffe unseres politischen Systems für uns Schweizer geblieben sind. Alle wirklichen Vorschläge zur Demokratisierung der Direkten Demokratie, wie die Einführung der Gesetzesinitiative auf Bundesebene oder die Schaffung von Transparenz bezüglich der in Abstimmungen und Wahlen verwendeten Geldmittel, sind von der SVP im Übrigen seit Jahrzehnten immer abgelehnt worden.

2 Unter anderen auch vom französischen Fourieristen und Sozialisten Victor Considerant (1808-1893) in seiner Schrift La solution ou le Gouvernement direct du peuple (3. Auflage, Paris 1851) vertreten, vgl. Martin Stohler, Considerant, Bürkli et la création d'un éspace politique 1846-1850, in: Cahiers Charles Fourier Nr. 19, 2008 - www.charlesfourier.fr

3 Vergleiche hierzu auch den Beitrag von Henry Booth in diesem Band, die beiden Publikationen aus der Service-Public-Reihe der Editions le Doubs vor und nach der Minarettverbot-Abstimmung 2009 und 2010 sowie die Bemühungen des Forums für Demokratie und Menschenrechte (FMD). www.landhausversammlung.ch

4 Siehe dazu das neue Buch von Oswald Sigg und Viktor Parma, Die käufliche Schweiz, Zürich, August 2011 (Nagel& Kimche) sowie die entsprechenden Bemühungen um eine neue Volksinitiative der Gruppe für Demokratie und Transparenz (GDT) und Äusserungen von Bundesrätin Sommaruga im Tages-Anzeiger vom 27. August 2011, alles dazu auf www.ddwerkstatt.ch

5 Nach jahrelangen Anstrengungen hat sich im August 2011 in einer nationalrätlichen Subkommission der Staatspolitischen Kommission aufgrund neuer umfassender wissenschaftlicher Analysen und vieler negativer Erfahrungen nun erstmals ein sehr breit abgestützter entsprechender Konsens gezeigt, der zuversichtlich stimmt, dass in den kommenden Jahren Verfassungsreformen, welche solche Engagements des Staates ermöglichen, durchgeführt werden können.

6 Nicht zu verwechseln mit den TV-Talks oder den arenisierten Rechthabereien: Kriterium für eine gute Diskussion, im Kleinen wie im Grossen, ist immer die Frage, ob alle die Diskussion klüger beenden, als sie sie begonnen haben; dies ist die Aufgabe aller Beteiligten, was die gegenseitige Verantwortung auch für den Andersdenken zum Ausdruck bringt, der mehr als Partner im anstrengenden Prozess des gemeinsam klüger Werdens angesehen werden kann und weniger als Gegner oder gar Feind, gegen den es recht zu haben oder den es gar niederzuschreien gilt.



Kontakt mit Andreas Gross



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