31. Aug. 2011

NZZ

Aaland – Beispiel einer gelungenen Autonomie


Die wachsende Zahl innerstaatlicher Konflikte erfordert neue Lösungsansätze. Die Aalandinseln, ein Archipel in der Ostsee, gehören zwar zu Finnland. Seit 1921 ist die Inselgruppe aber autonom. Der Autonomiestatus ist das Resultat eines intensiven diplomatischen Prozesses.

Valerie Zaslawski

Das Bild des Krieges hat sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts stark verändert: Bis 1945 waren vor allem Kriege zwischen Staaten charakteristisch. Heute aber sind über die Hälfte aller Kriege innerstaatlich. Die Konflikte in der Kaukasusregion, in Afghanistan, im Sudan, in Somalia oder in Sri Lanka sind nur einige Beispiele dafür.

Spannungen zwischen Staaten und Minderheitengruppen, die einen Anspruch darauf erheben, ihre Identität bewahren zu dürfen, sind oft die Ursache solcher innerstaatlicher Kriege. Dies schreibt Andreas Gross, SP-Nationalrat und Abgeordneter des Europarats, in seinem für die Parlamentarische Versammlung des Staatenbundes verfassten Autonomiebericht.

Kein Allheilmittel

Da drängt sich die Frage auf, wie solche innerstaatlichen Konflikte gelöst werden können. Ein Allheilmittel gibt es zwar nicht. Aber laut dem Bericht von Gross ist Autonomie eine Inspirationsquelle für ebendiese Art von Konfliktlösung. Der Begriff Autonomie ist laut dem Bericht vieldeutig und kann sich auf verschiedene Organisationsformen beziehen, welche von Dezentralisierung über Regionalismus bis hin zu Föderalismus reichen.

Ausserdem gibt es verschiedene Formen von Autonomie. So spricht man beispielsweise von kultureller, territorial-politischer oder administrativer Autonomie. Oft sind diese Formen aber miteinander verflochten. Autonomie solle zudem nicht als starrer Begriff betrachtet, sondern vielmehr als verhandelbarer Prozess gesehen werden. Laut Gross erlaubt Autonomie einer Minderheitengruppe innerhalb eines Staates, ihre Rechte auszuüben. Gleichzeitig garantiere Autonomie aber die Einheit des Staates, dessen Souveränität sowie dessen territoriale Integrität.

Als Vorzeigebeispiel, ja sogar als Modell für erfolgreiches internationales Krisenmanagement durch Autonomie werden oft die Aalandinseln aufgeführt, eine Inselgruppe in der Ostsee zwischen Finnland und Schweden. Die 6700 Inseln gehören zwar zu Finnland, sind seit 1921 aber autonom.

Ursprünglich hatte Aaland zu Schweden gehört, doch 1809 verlor das Königreich die Inselgruppe sowie Finnland im Krieg an Russland. Von 1809 bis 1917 gehörten die Inseln zum Grossherzogtum Finnland, einem autonomen Gebiet im russischen Zarenreich. Während des Krimkrieges im Jahre 1856 errichtete Russland eine Festung auf den Inseln. Deshalb wurden die Inseln durch ein internationales Abkommen demilitarisiert.

Als Finnland 1917 in der Folge der russischen Revolution seine Unabhängigkeit erklärte, wollten die Aaländer ihre Chance ergreifen und sich wieder mit Schweden vereinen, dem Land, dem sie sich kulturell und sprachlich am nächsten fühlten.

Kunst des Kompromisses

Auch Schweden wollte dem Bestreben der Aaländer Rechnung tragen. Doch Finnland hatte wenig Interesse daran. Im Gegenteil. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern kühlten sich rasch ab. Der Streit erlangte internationale Bedeutung, nicht zuletzt wegen des Vertrages bezüglich der Demilitarisierung der Inseln. Der Völkerbund nahm sich der Frage an; Finnland und Schweden waren im Vorfeld bereit, die Entscheidung der internationalen Organisation zu akzeptieren.

Der Völkerbund kam zu folgendem Entschluss: Die Inseln sollten Teil von Finnland bleiben. Finnland hingegen musste den Aaländern ein grosszügiges Mass an Autonomie zusprechen. Nicht zuletzt musste Finnland die Demilitarisierung und Neutralisierung der Inseln durch die Unterzeichnung eines internationalen Abkommens akzeptieren. Damit wurde Schweden versichert, dass die Inseln nicht für militärische Zwecke missbraucht würden. Aus diesem Grund bezeichnet man die Aalandinseln heute oft als Inseln des Friedens.

«Niemand hat alles bekommen, aber jeder etwas», erklärt der Präsident des Aaländer Parlaments, Roger Nordlund, im Gespräch. Und so überrascht es wenig, dass die Parteien damit anfangs nicht zufrieden waren. Gut eine Generation habe es gedauert, bis die Aaländer sich mit dem Autonomiestatus der Inseln hätten anfreunden können, ergänzte Nordlund. Der Kampf um mehr politischen Einfluss gehe jedoch weiter.

Kreative Lösung

Heute besuchen immer wieder Gruppen aus krisengeplagten Ländern die Inselgruppe, um vom Erfolg der Aaländer zu lernen. «Wir erklären den Gruppen, wie unser System funktioniert», sagt Nordlund. Aaland hat beispielsweise ein eigenes Parlament mit 30 Sitzen, das sogenannte Lagting. Der Autonomiestatus der Insel erlaubt es den Einwohnern in bestimmten Bereichen (Erziehung, Kultur, Gesundheitswesen, Polizei, Medien oder Post), ihre eigenen Gesetze zu machen. Auf dem Festland erlassene Gesetze, die beispielsweise die Aussenpolitik betreffen, finden jedoch auch auf Aaland Anwendung; sie müssen vom aaländischen Parlament aber gutgeheissen werden, sofern sie die Inseln betreffen.

Nordlund ist sich bewusst, dass jeder Konflikt einzigartig ist und für jeden eine eigene Lösung gefunden werden muss. Aaland sei ein Beispiel für erfolgreiche Konfliktlösung, nicht ein Modell «Wir geben den Besuchern lediglich Ideen und Elemente, die sie gebrauchen können.» Als Beispiel nennt Nordlund die Institution Polizei. Die Aaländer haben ihre eigene Polizei, denn das Vertrauen in die eigenen Institutionen sei fundamental.

Auch Scott Weber, Generaldirektor von Interpeace, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für dauerhaften Frieden einsetzt, ist überzeugt, dass diese kreative Lösung nicht einfach kopiert werden könne. Das erfolgreiche Beispiel der Aalandinseln sei aber eine Inspiration für die Lösung anderer Konflikte. Dabei betont er, wie wichtig es sei, die Würde der Menschen zu respektieren. Vier Gründe haben laut Weber zum Gelingen des Aaland-Abkommens beigetragen: Erstens seien die Parteien mit Respekt behandelt worden; zweitens gebe es auf den Inseln keine Ressourcen wie zum Beispiel Erdöl, die von Bedeutung gewesen wären; drittens seien die wirtschaftlichen Aussichten gut gewesen, denn Finnland investierte grosszügig in die Region; und viertens sei die Region geografisch gut abgrenzbar.

Kehrseite der Autonomie

Die Autonomie auf Aaland bringe aber auch Probleme mit sich, besonders wenn es um die Zusammenarbeit mit dem Festland gehe, erklärt Nordlund. Finnland ist ein zweisprachiges Land; Finnisch und Schwedisch sind offizielle Landessprachen. Die Mehrheit der Finnen spricht Finnisch, doch auf den Aalandinseln wird Schwedisch gesprochen. Auch auf dem Festland gibt es eine schwedischsprachige Minderheit. Vom Helsinki wird jedoch erwartet, dass es mit den Inseln in Schwedisch kommuniziert. Doch ebendiese Kommunikation sei ein immer grösseres Problem; sie werde immer schwieriger, klagt Nordlund. Es komme sogar vor, dass in Englisch kommuniziert werde.

Auf die Frage, ob sich Roger Nordlund als Finne oder dann doch eher als Schwede fühle, antwortet er lachend und ohne mit der Wimper zu zucken: «Ich bin Aaländer». Die starke aaländische Identität wird ausserdem durch den Pass unterstrichen: «Suomi Finland Aaland». «Trotzdem», so Nordlund, «kommen die Aaländer den Schweden von Tag zu Tag näher.»

Einiges kritischer bezüglich der Ansicht, Autonomie sei ein konfliktlösender Mechanismus, ist Steven Haines, Anwalt sowie Leiter des Sicherheits- und Rechtprogramms am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP). Theoretisch bezeichnet er Autonomie als «nette Idee». In der Praxis sei es aber oft schwierig, das Konzept umzusetzen. Autonomie sei weder Fisch noch Vogel, weder vollständige Souveränität noch ein totaler Verlust von Souveränität. Das Beispiel Aaland verdeutliche gut, dass Autonomie niemandem alles gebe, was er möchte. Ausserdem ist Haines der Meinung, dass Autonomie zur Forderung nach Unabhängigkeit führe. Kosovo sei ein klassisches Beispiel dafür.

Demokratie als Bedingung

Doch laut Andreas Gross ist Autonomie «weniger eine Perspektive für jene, die Unabhängigkeitsgelüste mit sich tragen, als eine Idee für alle, die gar keine solchen aufkommen lassen wollen». In Kosovo sei es zu diesem Missverständnis gekommen, weil der Begriff auch in den alten totalitären Systemen der Sowjetunion und Jugoslawiens existiert habe, jedoch mit einem andern Inhalt. Aus diesem Grund ist Gross überzeugt, dass es ohne Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung keine wirkliche Autonomie geben kann.

Das Beispiel Aaland ist insofern speziell, als die involvierten Parteien im Vorfeld bereit waren, jegliches Urteil des Völkerbundes zu akzeptieren. Dieses Einverständnis der Parteien sei fundamental, meint Haines, wenn es darum gehe, eine dauerhafte Konfliktlösung zu finden. Leider, fügt Gross hinzu, fehle es heute an vielen Orten an ebendieser Bereitschaft.


Kontakt mit Andreas Gross



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