30.03.2011

Nesawisimaja Gaseta
RUS

Ein historischer Prozess


Im neuen Russlandbericht für die Parlamentarische Versammlung des Europarats, welcher zur Zeit von Andreas Gross, PACE-Berichterstatter für das Monitoring Russlands, vorbereitet wird, wird der Prozess gegen Michail Chodorkowski einen wichtigen Platz einnehmen. Im Interview für die Nesawisimaja Gaseta erzählt Andreas Gross von seinem Treffen mit Chodorkowski im Dezember 2010 und äussert sich über das Rechtssystem in Russland.

War es schwierig, eine Besuchserlaubnis für Chodorkowski zu erhalten?

Schon Lew Tolstoi hat gesagt: «Um ein Land zu verstehen, muss man seine Gefängnisse besuchen.» Um Zugang zu einem russischen Gefängnis zu erhalten, mussten wir natürlich zuerst bei den Behörden anfragen. Diese Möglichkeit hat sich uns beim Treffen mit Alexander Reimer, dem Direktor des Föderalen Dienstes für Strafvollzug, geboten. Dort haben wir den Wunsch geäussert, Chodorkowski zu treffen. (…)

Was fiel Ihnen als erstes auf, als das Treffen zustande kam?

Dass die Bedingungen für Chodorkowski in Moskau viel besser waren, als diejenigen, die er 6500 km von der Hauptstadt entfernt gehabt hatte. Wir konnten uns persönlich überzeugen, dass es in den Moskauer Gefängnissen hundert Mal besser ist als in der Kolonie in Kasan, die wir ebenfalls besucht hatten. Mit Chodorkowski konnte ich die Haftbedingungen genau besprechen. Natürlich kann man nach so vielen Jahren hinter Gittern kaum vollumfänglich seinen Optimismus bewahren. Mit der Zeit beginnt einem die Decke auf den Kopf zu fallen.

Was nahmen Sie von diesem Besuch mit?

Ich war überrascht: Chodorkowski hinterliess einen glücklichen Eindruck, oder er bemüht sich, glücklich zu wirken. Und das in der Zelle! Die Erklärung dafür hat er selber gegeben: Nach dem zweiten Prozess hatte er das Gefühl, dass eine Mehrheit der Bevölkerung auf seiner Seite stehe. Nach dem ersten Prozess war das anders: Die meisten verurteilten ihn als Oligarchen, der gestohlen hatte, was dem Volk gehörte. Es ist ein Paradox: Wie die russischen Behörden sich selber eine Opposition schaffen und ihr Legitimität verleihen. Was uns ebenfalls wichtig schien – was wir auch Chodorkowski mitgeteilt haben – dass der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs im Gespräch mit uns mehrmals gesagt hat, der zweite Prozess sei noch nicht zu Ende sei. Das glich einer sanften Kritik an die Adresse der europäischen Kritiker: Erst der erstinstanzliche Beschluss liege vor, eine Fortsetzung sei möglich… Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Revision des „zweiten Prozesses“ unerwartete Resultate bringen kann.

Hat Chodorkowski von seinem zweiten Prozess gesprochen?

Er hält den ganzen Prozess für von Anfang an von den Behörden fabriziert. Er hat keine Hoffnung mehr. Wir haben ihm aber gesagt, dass wir nach dem Treffen mit dem Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs den Eindruck haben, dass man die Hoffnung noch nicht aufgeben sollte.

Es gibt bereits Gerüchte über einen dritten Prozess …

Ich weiss, doch der zweite Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Der dritte kann ja nicht anfangen, bevor der zweite beendet ist, das scheint mir offensichtlich. Auch wenn die Reihenfolge eingehalten wird… Das Thema des „dritten Prozesses“ ist nach dem Gespräch von Wladimir Putin mit dem Volk im Dezember aufgetaucht. Ich habe diesen Auftritt nicht gesehen, aber wahrscheinlich müsste jemand Putin sagen, dass er nicht der Judikative vorsteht. In einem Staat, der Mitglied des Europarats ist, muss die Judikative unabhängig sein und nicht dem Premier gehorchen. Wenn sich das Rechtssystem nach der Meinung der Politiker richtet, ist das ein grosser Fehler. Und man müsste Putin erklären, dass der Sinn des ersten Chodorkowski-Prozesses der Logik des zweiten widerspricht. Man kann nicht gleichzeitig stehlen und die Steuern nicht bezahlen. Wenn auch in Zukunft in Russland jemand verurteilt wird, weil der Premier diese Person als persönliche Drohung betrachtet, dann wird das einer Verbesserung von Russlands Image nicht förderlich sein.

Halten Sie persönlich den Chodorkowski-Prozess für politisch?

Ja, vieles spricht dafür. Die Rechtsprechung sieht aus wie ein Opfer politischer Interessen. Diese Hypothese wurde von Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger aufgestellt, die einen Bericht zum ersten Chodorkowski-Prozess verfasst hat. Sie ist gegenwärtig deutsche Justizministerin. Sie kam zum Schluss, dass der Prozess auf einem wackeligen rechtlichen Fundament steht.

Wird Ihr Bericht bis zum Ende der russischen Wahlrunden Ende 2012 fertig sein?

Wir untersuchen, wie die russischen Behörden die beim Beitritt zum Europarat übernommenen Pflichten erfüllen. Wir haben schon gesehen, dass nicht alles umgesetzt wurde, es muss weiter gearbeitet werden. Wenn wir die Prioritäten schnell festsetzen können, wird der Bericht bereits Anfang nächstes Jahr bereit sein. Ich hoffe, dass sich die Exekutive des Landes als ebenso operativ erweist, wie die Dumaabgeordneten.

Werden die Chodorkowski-Prozesse in Ihren Bericht Eingang finden?

Natürlich. Denn die Schaffung eines Rechtsstaats stellt die Grundlage dar für jedes Land, das Mitglied des Europarats ist. Alles, was man über die Justiz in Russland weiss, wird immer mit dem bekanntesten Prozess verglichen werden. Wenn seine juristische Basis in Widerspruch zu den Grundlagen des Rechtsstaats steht, werden die Probleme bleiben. Solche Prozesse fördern die Integration Russlands in Europa nicht. Diese Prozesse spalten die russische Gesellschaft, aber sie sind auch wichtig für den Übergang zur Demokratie und die Ausbildung des Rechtsstaats in Russland. (…)


Kontakt mit Andreas Gross



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