Oktober 2010
De Helling 2010/3
|
Herrn Wilders Verhunzungen der Direkten Demokratie sind kein Grund, gegen die Direkte Demokratie zu sein
Wer die Direkte Demokratie den Rechten überlässt, lässt die Freiheit zu einem Privileg weniger Privilegierter verkommen und die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger rechts liegen.
Andreas Gross
Wir müssen die Demokratie restaurieren, renovieren und revitalisieren – nicht den Rechten überlassen. Die gegenwärtige tiefe Krise aller europäischen Demokratien erleichtert die Verständigung auf deren Ursachen und die Diskussion, wie sie überwunden werden könnte, paradoxerweise gar nicht. Obwohl überall eigentlich nur wenige die Demokratiekrise mit undemokratischen Mitteln überwinden möchten. Die meisten versuchen überall und richtigerweise die Demokratie zu demokratisieren, um sie leistungsfähiger, glaubwürdiger und für alle spürbar gestaltungsmächtiger zu machen.
Doch wir machen es uns schwer, uns darauf zu verständigen, was wir denn unter der Demokratisierung der Demokratie verstehen. Zu lange haben wir es versäumt, uns über die unterschiedlichen Bedeutungen der gleichen Begriffe zu verständigen. Selbst dann, wenn sie uns sehr wichtig sind. Zu sehr haben wir uns an die Diskussionen in unseren nationalen Kommunikationsräumen gewöhnt und uns mit Versatzstücken an Wahrnehmungen anderer und meistens nur der grösseren Nationen begnügt. Und zu lange haben sich zu viele an den meisten Orten nicht um die Substanz und die zentralen Inhalte der alten Begriffe Demokratie, Souveränität, Freiheit und Gerechtigkeit gekümmert.
Anders kann ich mir nicht erklären, weshalb niederländische Linke und Grüne die Ideen und Konzepte der Direkten Demokratie so missverstehen und sie von sich weisen, nur weil diese von Herrn Wilders instrumentalisiert und missbraucht werden. Schliesslich liebt Herr Wilders auch den holländischen Fussball und dies ist wohl noch kein Grund, weshalb dieser von den Linken und Grünen der Niederlande aufgegeben werden dürfte. Ganz im Gegenteil: Wir Europäerinnen und Europäer lieben den von Johan Cruyff gelebten und neu erfundenen Fussball selbst oder gerade dann ganz besonders, wenn er von katalanischen Spaniern besser beherrscht wird als von den gegenwärtigen Fussballern der Oranje selber.
Wenn Herr Wilders die Direkte Demokratie nationalisiert, autokratisiert und personalisiert, dann bedeutet dies doch nicht, dass wir die Direkte Demokratie in Frage stellen oder gar ablehnen müssen, sondern wir müssen uns darauf besinnen, was die Direkte Demokratie wirklich ist. Dann würden wir nämlich merken, dass wir Herr Wilders und dessen Verkürzung und Missbrauch der Direkten Demokratie ablehnen müssen und nicht die Form der Demokratisierung der Demokratie an sich.
Diese Besinnung auf die Philosophie und die Moderne der Direkten Demokratie möchte ich deshalb ganz besonders gerne tun, weil ich auf Grund der unseligen Erfahrungen, welche die Niederlande mit dem vermeintlichen Referendum zur vermeintlichen europäischen Verfassung gemacht hat, den Eindruck habe, dass nicht nur Herr Wilders derzeit in den Niederlanden Vieles rund um die Direkte Demokratie missversteht. Vermeintlich habe ich deswegen geschrieben, weil das Referendum nur ein Plebiszit war, das heisst, eine von Regierung und Parlament angesetzte Abstimmung, und weil der sogenannte europäische Verfassungsentwurf recht eigentlich ein Vertragsentwurf war, dem man um des besseren Images wegen die nicht verdiente Etiquette der Verfassung verpasste.
Andreas Gross ist Schweizer Politikwissenschaftler, sozialdemokratischer Bundesparlamentarier, Fraktionspräsident der Sozialdemokraten im Europarat.
Kontakt mit
Andreas Gross
Nach oben
|