4. Juni 2010
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Politikwissenschaft
Seminar: Direkte Demokratie
Dozenten: PD Dr. Oppelland,
lic. sc. pol. Andreas Gross/NR
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Hinweise und Thesen zur Geschichte und zur Gegenwart der Direkten Demokratie (DD) in Kalifornien (CAL) und zu deren Vergleich mit jener in der Schweiz (CH)
Von Andreas Gross
1. Gemeinsame historische, politisch-kulturelle Eigenheiten, welche in CAL und der CH direktdemokratiefördernd gewirkt haben: Keine Feudalherrschaft(en), Verbreitete politische Kultur der individuellen und kollektiveren Selbsthilfe, Selbstinitiative und Selbstorganisation (Bergbauern/Auswanderer/Frontiers), vormoderne Versammlungs-Traditionen.
2. Mit einer Phasenverschiebung von 30 Jahren (ZH:1865-1875/CH:1874.1891 – CAL/Oregon:1890-1914) verlangten die gleichen sozialen Gruppen aus ähnlichen Gründen («System» / «Machine», korruptes Parlament) mit den gleichen Hoffnungen und ähnlichem Leidensdruck die gleichen partizipativen demokratischen Elemente.
3. Historischer Unterschied: In den schweizerischen Kantonen nutzte die Demokratische Bewegung den Hebel des (Verfassungs-)Totalrevisions-Rechtes zur Demokratiereform. In Californien lobbyierten Mitglieder des Populist- und Progressive-Mouvements die Parlamente und vor allem die Gouverneure jahrelang bis sie sich die Idee der Volksrechte zu eigen machten und ihrerseits entsprechende Vorlagen der Volksabstimmung unterbreiteten (CAL 1911, vor genau 100 Jahren).
4. Quantitativ hat die DD in CAL und der CH/ZH sehr ähnliche Rhythmen: Gesteigerter Gebrauch nach dem 2.Weltkrieg, enorme Steigerung der Intensität nach 1968, vor allem in den 1990er Jahren, Abflachung nach 2000.
5. Grosse Differenzen im Design: Zeitverständnis (CAL sehr viel schneller); in Cal alles am Parlament vorbei, meist sogar gegen das Parlament und die Exekutive, in der CH viel interaktiver und inklusiver; in CAL DD total kommerzialisiert, ja industrialisiert, bzw. vom Geld kolonialisiert (Bezahlte TV-Werbung für die meisten grösste Informationsquelle), in der CH spielt das Geld eine sekundärere, wenn auch zunehmende Rolle; in CAL Finanzströme sehr transparent, in der CH alles versteckt; in CAL Fairnessrules wieder abgeschafft, in der CH bisher bekämpft; in CAL hohe Bedeutung des Verfassungsgerichts, in der CH Schnittstelle Grundrechte/EMRK und DD ein grosses verfassungsrechtliches Defizit.; n CAL mehr direkte Erfolge, in der CH viel mehr indirekte Teilerfolge; in CAL System blockiert, grosser DD-Verfahrens-Reformbedarf, in der CH benötigt mehr die Infrastruktur mehr Investitionen.
6. In CAL gibt es viel mehr Initiativen und viel weniger Referenden; in der CH werden beide Instrumente gebraucht und sind beide gleichermassen systemrelevant; in CAL bekämpft man eine VI eher mit einer konkurrierenden VI als mit einer Neinkampagne! Ja-Kampagnen sind dort im Unterschied zur Schweiz populärer und teilweise erfolgversprechender als Nein-Kampagnen.
7. Die grössten Probleme im kalifornischen DD-Prozess:
a) Die Initiativtexte sind viel zu lang, zu komplex, schlecht verfasst, widersprüchlich, vage, zu detailliert, teilweise sogar verfassungswidrig. Zwischen 1988 und 1990 13 VI mit mehr als 5000 Wörtern, einige gar mehr als 10'000; 2000-2006: 15 von 46 über 5000, 8 mehr als 10'000 Wörter (keine Einheit der Materie-Klausel à la CH)
b) Das Parlament wird vom DD-Prozess aussen vor gelassen. Obwohl nach dem Zustandekommen einer VI ein Hearing stattfindet, ist es folgenlos (keine Gegenvorschlagskultur, keine indirekten, legislativen Gegenvorschläge, keine grossen Plenumsdebatten wie in der CH)
c) CAL ist der einzige US-Staat in dem ein durch die VI zustande gekommener Verfassungstext ohne entsprechenden, ausdrücklichen Passus in der Initiative nach deren Annahme vom Parlament ohne neue Volksabstimmung abgeändert werden darf.
d) Die Qualifikationshürde für Volksinitiativen (5% - 433'971 Unterzeichner für Gesetzes-, 8% - 694‘354 letztmalige Wähler für Verfassungsinitiativen in 150 Tagen) ist für Initianten ohne viel Geld zu hoch, für Initianten mit viel Geld zu niedrig. 1976 kostete das Zustandekommen einer VI durchschnittlich noch 45'000 $, 1990 über eine Million und 2004/06 etwa 3 Mio. $. Für jene, welche keine Firmen mit bezahlten U-SammlerInnen aus der eigentlichen Initiativindustrie anheuern können, ist die Sammelfrist von 150 Tagen viel zu kurz.
e) Vor 1990 gab es viel mehr Gesetzes- als Verfassungsinitiativen. 2006 waren zwei Drittel aller Volksinitiativen Verfassungsinitiativen. Die Verfassung wird zu häufig und zu rasch und zu schlecht revidiert.
f) Die Information der Stimmberechtigten ist unzulänglich. In der wichtigsten Infoquelle, dem Abstimmungs-„Pamphlet“, werden Unterstützer & Gegner nicht genannt, ebenso wenig die Meinung des Parlamentes, der Parteien.
g) Die Stimmberechtigten sind viel zu sehr von der bezahlten TV-Werbung abhängig bei ihrer Meinungsbildung. Politische Debatten zeigen die grossen TV-Kanäle kaum, weil sie schlecht zu verkaufen seien.
h) 1911 wollten die Kalifornier die DD, weil das Geld das Parlament zu sehr dominierte. Heute dominiert das Geld die DD. Grosse Geldbeiträge bilden die hauptsächliche Finanzierungsform. 1990 bestanden zwei Drittel aller Initiativbudgets aus Beiträgen von über 100'000 $, 2006 betrugen zwei Drittel aller Budgets aus Beiträgen von über einer Million $. Heute kostet eine VI-Kampagne schnell mehrere Dutzend Millionen $, in der teuersten Abstimmungskampagne ging es im November 2006 um Alternativenergien, welche von der Erdölindustrie bekämpft wurden (153 Mio. $). Manchmal haben Gegner einer VI 20 Mal mehr Gelder zur Verfügung als deren Urheber.
i) In Kalifornien wird an einem Wahltag gleichzeitig über viel zu viele Volksinitiativen abgestimmt. Die Öffentlichkeit kann alle Vorlagen gar nicht serös verarbeiten.
j) Zwischen 1964 und 2007 wurden insgesamt 65 VI angenommen in Kalifornien (insgesamt ca. 38%): 9 davon wurden ganz und 11 davon wurden teilweise vom kalifornischen Verfassungsgericht anschliessend ungültig erklärt.
k) Wenn zwei Volksinitiativen zum gleichen Thema angenommen werden, so gilt gemäss Verfassungsgerichtsentscheid nur diejenige, welche mehr Zustimmung erhielt, selbst wenn sich die Bestimmungen beider VI nicht widersprechen und Stimmende deshalb ganz bewusst beide unterstützt haben. Deshalb werden VI oft auch mit anderen VI bekämpft statt mit einer Nein-Kampagne.
l) In einer Umfrage zeigte sich 2006, dass 80% der Stimmberechtigten die DD in Kalifornien schätzen. Doch nur 12 % sind ganz zufrieden mit der Art, wie sie funktioniert, während 73% finden, das Geld manipuliere den Initiativprozess und er müsse reformiert werden.
8. Zu den grössten Problemen, welche heute Regierung und Reformanstrengungen in Kalifornien blockieren und für viel Unmut sorgen, gehören die durch einige Volksinitiativen eingerichteten „Supermajority-Requirements“ (Zweidrittel-Mehrheitserfordernisse im Parlament) in Budgetfragen, sowohl wenn Steuern eingeführt werden oder wenn in bestimmten bereichen Kredite gesprochen und bewilligt werden sollen. Diese qualifizierten Mehrheitserfordernisse erlauben jeder Minderheitspartei immer wieder, die Beschlüsse von Mehrheiten zu blockieren.
9. Zweidrittel-Mehrheitserfordernisse blockieren oft nicht nur jegliche Entscheidungen, sie «verwischen auch die Verantwortlichkeiten» und machen «politische Verpflichtungen unmöglich» (Mathews/Paul).
10. 1949 wurde in den USA für Rundfunk- und TV-Veranstalter die Fairness-Rule eingeführt: In kontroversen Fragen müsse, so verlangte sie, zur Sicherung des Dialogs beide Standpunkte angemessen zur Geltung kommen können. Diese Regel wurde in Kalifornien auch für Abstimmungskampagnen eingeführt, beispielsweise 1988 als die Zigarettenindustrie für mehrere Millionen $ eigene VI lancierte, die Gegner fast kein Geld hatten, die Veranstalter deren TV-Werbung aber kostenlos zum fairen Ausgleich der zahlungskräftigen Industrie publizierten. 1992 wurde die Fairness-Regel auf-gehoben mit dem Argument, die zahlreichen verschiedenen TV- und Radio-Sender würden nun ausreichend für „Pluralität“ sorgen ... 2006 versuchten Parlamentarier vergeblich, die Fairness-Rule in CAL wieder einzuführen. -- Ich versuchte in den letzten zehn Jahren ebenso vergeblich eine ähnliche solche Fairnessregel in der Schweiz für Anzeigekampagnen in Zeitungen und Zeitschriften im Vorfeld von Volksabstimmungen einzurichten.
11. In den USA ist selbstverständlich, dass Urheber und Beträge grösserer Spenden für politische Kampagnen veröffentlicht (Disclosure) werden müssen. So müssen in Kalifornien in allen Anzeigen und TV-Spots sogar die Namen der beiden grössten Sponsoren eines Initiativbegehrens namentlich genannt werden. Ebenso, wer die Volksinitiative hauptsächlich sponsort, für den ein bezahlter Unterschriftensammler Unterschriften sammelt. In der Schweiz gibt es da nichts.
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Quellen:
Democracy by Initiative: Shaping California’s Fourth Branch of Government, ed. by the Center for Governmental Studies (President Robert M. Stern), 402 p. Los Angeles, 2008
A Government by the People, Direct Democracy in America 1890-1940, by Thomas Goebel University of North Carolina Press, 2002, 302p
California Crackup, How Reform Broke the Golden State and How We Can Fix It,
By Joe Mathews and Mark Paul, Univ. of California Press, 2010, 210p
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