28. Mai 2010

Friedrich-Schiller-Universität Jena

Institut für Politikwissenschaft

Seminar: Direkte Demokratie

Dozenten: PD Dr. Oppelland, lic.sc.pol. Andreas Gross/NR

19 Hinweise, Anregungen und Anstösse zur Diskussion der Direkten Demokratie (DD) in der Schweiz


Von Andreas Gross

1. Die Alte Eidgenossenschaft war unfrei, in Stadt und Land vor allem oligarchisch geprägt.

2. Die Landsgemeinde wie jede Versammlungsdemokratie (sog. Basisdemokratie) ist vormodern und sehr manipulierbar. Die Freiheit der Andersdenkenden ist nicht geschützt. Abhängigkeiten machen unfrei und verhindern den offenen Diskurs und die freie Entscheidung.

3. In der alten Eidgenossenschaft gab es Humuselemente, welche später für Entstehung und Entwicklung der Direkten Demokratie förderlich waren: Dezentrale Strukturen, Selbstverwaltungstraditionen, Versammlungskulturen.

4. Die DD ist vor allem eine Erfindung der Französischen Revolution, weniger der Jakobiner und mehr der Girondisten (Condorcet, Paine); Napoleon befreite grosse Teile der Schweiz und viele Schweizer (erste Volksabstimmung 1803).

5. In den 1830er Jahren erkämpften in einigen Kantonen Liberale liberale Freiheitsrechte (Volkssouveränität, bürgerliche Freiheiten); in St. Gallen erste Art des Vetos; in der Schweiz wurde viel Gedankengut der Französischen Revolution erkämpft (Regeneration).

6. 1847/1848 gelang in der Schweiz, auch dank entsprechenden anderen Versuchen in Europa, die einzige liberale Revolution in Europa, erste umfassende (Männer-) und einzige europäische Demokratie.

7. Die Gesellschaft schaffte sich ihren liberalen Staat. Die Bundesverfassung wurde Volk und Ständen vorgelegt (Oblig. Verfassungsreferendum); es wurde jedoch keine Direkte Demokratie etabliert. Parlamentssystem wurde aus den USA übernommen.

8. Die Direkte Demokratie wurde auf Grund der Schwächen des rein repräsentativen Systems von einer breiten und vielfältigen Oppositionsbewegung, getragen von vielen Bauern, Handwerkern, Arbeitern und Intellektuellen erkämpft. Zuerst in den Kantonen (1860er) später auf Bundesebene, 1874 Gesetzes-Referendum und 1891 Verfassungsinitiative.

9. Mit Ausnahme des Staatsvertragsreferendums und des Frauenstimmrechtes stagnierte im 20.Jahrhundert auf der Bundesebene die Ausgestaltung der Direkten Demokratie.

10. Die DD ist auf Kantons- und Gemeindeebene ungleich vielfältiger entwickelt (Gesetzesinitiative, Konstruktives Referendum, Einzelinitiative, Volksmotion, obligatorische und fakultative Finanzreferenden u.a.m.).

11. Im Unterschied zu den USA ist die DD in der Schweiz kooperativ und nicht antagonistisch angelegt, Die Institutionen arbeiten zusammen. Dafür benötigen sie Zeit. Beides führt zu Verhandlungsergebnissen und Abfallprodukten durch Gesetzesrevisionen, die Initianten oft befriedigen und ihre Initiative zurückziehen lassen (indirekte Erfolge).

12. Von den noch nicht ganz 300 Volksinitiativen seit 1891 kamen nicht ganz zwei Drittel zur Abstimmung von denen nur etwas über 10% einen direkten Erfolg (Doppelmehr) hatten – für Bewertung allerdings viel zu grob!

13. Das Gesetzesreferendum entfaltet vor allem eine starke präventive Wirkung; es hat das ganze Regierungssystem verändert und geprägt (Konkordanz).

14. Die Stimmbeteiligung ist höher als die Wahlbeteiligung. In einer vierjährigen Legislaturperiode kommen etwa 40 Vorlagen an etwa 11 Abstimmungstagen zur Entscheidung. Es gehen nie immer die gleichen Teile der Bevölkerung stimmen. Insgesamt beteiligen sich aber in einer Legislatur gegen 80% der Stimmberechtigten.

15. Glücklicherweise grosser und bereiter Konsens: Beteiligungsquoren widersprechen der Logik der DD und würde deren Seele, die Kommunikation, verletzen.

16. Geld spielt auch in der Schweiz zunehmend eine grosse Rolle, es dominiert aber vorläufig im Unterschied zu den USA (noch) nicht. Bezahlte Unterschriftensammler sind noch in der Minderheit und diskreditieren eine Volksinitiative eher.

17. Zu den grossen Defiziten der schweizerischen Form der Direkten Demokratie gehören:

I. Fehlende demokratische Infrastruktur (keine öffentliche Parteienfinanzierung, keine Wahl- und/oder Abstim­mungs­kampf­kosten-Rückerstattungen, schlecht ausgestattete und abgesicherte Parlamentarier)

II. Fehlende Transparenz, Fairness- und Ausgleichsgesetzgebungen bezüglich der Rolle des Geldes in der DD

III. Unzulängliche Schnittstelle zwischen Direkter Demokratie und den Menschenrechten. Zwingendes Völkerrecht als Ungültigkeitsgrund wird von Bundesversammlung beurteilt

IV. Kein Bundes-Verfassungsgericht in der Schweiz, teilweise bezüglich EMRK sitzt ein solches in Strassburg

V. Unterentwickelte politische Bildung in den Schulen und für Erwachsene

VI. Zunehmende Defizite in der Öffentlichkeit (Medien immer mehr Geschäft und immer weniger ein infrastruktureller Beitrag zur Demokratie)

VII. Neue Medien werden erst unzureichend für die Qualifizierung der Stimmberechtigten genutzt

VIII. DD wird zu sehr als Privileg der SchweizerInnen und noch zu wenig als Menschenrecht verstanden (Ausnahmen einige welsche Kantone)
18. Die DD wirkt in der Schweiz integrierend (enorm vielfältige Gesellschaft), trägt zum kollektiven Lernen bei, fördert Identifikation und verkleinert Distanzen zwischen Politik und Bürgern. Bessere Ausgestaltung und festere Infrastruktur könnten da weiter förderlich sein.

19. Die DD spiegelt die Gesellschaft aber mehr als dass sie sie macht. Und der Spiegel ist nicht schuld am Gesicht, das sie morgens erblicken. Doch ohne Spiegel würden wir uns schlechter kennen und könnten uns weniger helfen.


AG/ 17.5.2010/Chicfram


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