19. Feb. 2010
NZZ Online
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Ein Fahrplan für den Strassburger Gerichtshof
In Interlaken ist eine Deklaration zur Zukunft des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verabschiedet worden. Trotz Einstimmigkeit der Mitgliedsstaaten wird die Umsetzung der Reformen nicht einfach werden.
Nina Belz, Interlaken
Mit der Verabschiedung der Deklaration von Interlaken ist am Freitag die zweitägige Konferenz zur Zukunft des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Ende gegangen. Die Vertreter der 47 Europaratsnationen haben das Reformpaket, das den mit Klagen überfluteten Gerichtshof entlasten soll, einstimmig gutgeheissen. Die Konferenz war auf Initiative der Schweiz zustande gekommen, die noch bis Mai den Vorsitz des Europarates innehat. Die Deklaration ist mehr als eine politische Absichtserklärung. Sie enthält einen konkreten Aktionsplan sowie zeitliche Richtlinien, bis wann die Reformen beschlossen beziehungsweise eingeführt werden müssen. Die Massnahmen sollen ohne zusätzliche finanzielle Mittel durchgesetzt werden.
Verantwortung der Staaten
Eine Reform des Gerichtshofes ist dringend nötig: Gegenwärtig sind in Strassburg 20 000 Klagen hängig. Eine bedingte Entlastung von geschätzten 20 Prozent wird von dem am 1. Juni in Kraft tretenden Protokoll 14 erwartet. Russland hatte mit der Hinterlegung seiner Ratifikationsurkunde in Interlaken den Weg für dessen Rechtskraft freigemacht. Die Deklaration bekräftigt mit dem Subsidiaritätsprinzip die primäre Verantwortung der Staaten, die Deklaration der Menschenrechte in ihrer Rechtsprechung zu beachten und die gefällten Urteile auch tatsächlich umzusetzen. Damit hofft man auf eine Reduktion der Wiederholungsklagen, die gegenwärtig rund 50 Prozent der gültigen Beschwerden ausmachen.
90 Prozent der Klagen stellen sich ohnehin als ungültig heraus und verursachen einen grossen Aufwand für die lediglich sieben Richter. Diesem Problem will man laut der Deklaration durch Filtermechanismen begegnen; deren Ausgestaltung wird allerdings nicht genannt. Konkrete Massnahmen sollen in der Konferenz des Ministerkomitees am 11. Mai, dem letzten Tag der Schweizer Präsidentschaft, beschlossen werden. Bereits Ende 2011 wird von den Mitgliedern erwartet, erste Resultate der Reformschritte vorzulegen. Obwohl die Zahl der Klagen jährlich zunimmt, halten die Europaratsnationen in der Erklärung am Individualklagerecht fest.
Die beiden Gastgeberinnen, Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf und Aussenministerin Micheline Calmy-Rey, äusserten sich an einer Medienkonferenz sehr zufrieden über die Verabschiedung der Deklaration. Gleichzeitig wies Calmy-Rey darauf hin, dass das Dokument nicht das Ende, sondern der Anfang eines Prozesses sei. Die Zeit sei kurz und die Zielsetzung ambitioniert, doch sei man sich einig, dass etwas passieren müsse. Eveline Widmer-Schlumpf unterstrich das Subsidiaritätsprinzip, indem sie, ohne Namen zu nennen, auf die strukturellen Mängel im Prozesswesen einzelner Mitgliedstaaten als Ursache der vielen Wiederholungsklagen hinwies. Die Statistik entlarvt die grössten Sünder: Rund 56 Prozent der hängigen Beschwerden stammen aus Russland, der Türkei, Rumänien und der Ukraine.
Paul Widmer, Schweizer Botschafter beim Europarat, sprach von einer Kompromisslösung, die dennoch Gewicht habe, weil neben den Vertretern der Mitgliedstaaten das Ministerkomitee sowie auch das Gericht selber dahinterstünden. Die «grossen Kämpfe» seien allerdings erst zu erwarten, wenn konkrete Massnahmen formuliert werden sollen. Der vorliegende Zeitplan zwinge die Mitgliedstaaten aber zur Rechenschaft vor dem Ministerkomitee und lege den Reformfahrplan für die nächsten zehn Jahre fest.
Keine Reue bei den «Sündern»
Weniger optimistisch äussert sich Nationalrat Andreas Gross. Die Implementierung und Überwachung der Agenda werde sehr schwierig werden, da sich gewisse Staaten um die Gerichtsurteile foutierten. Die Menschenrechtslage in einigen Staaten sei katastrophal, sagte der langjährige Beobachter des Europarates in Konfliktzonen. Er sprach sich für eine Stärkung des Europaratsparlaments aus und forderte für die Umsetzung der Reformen eine Erhöhung der finanziellen Mittel für das Gericht. Dies wird in der Deklaration allerdings nicht in Betracht gezogen. Trotz kritischem Unterton beurteilt auch Gross die Interlakener Konferenz positiv, auch wenn sie von Anfang an auf Kompromiss ausgelegt gewesen sei: Sünderstaaten seien weder kritisiert worden, noch hätten sie Selbstkritik geübt.
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