15. Nov. 2009

Magazin

Die Geschichte des Europarates
trägt die Zukunft der EU in sich



Fragen: Res Strehle

Wo siehst du die Schwerpunkte für die Arbeit des Europarates während der halbjährigen Präsidentschaft der Schweiz im Ministerkomitee abge­sehen von den offiziell genannten (Reform des Gerichtshofs, Förderung von Demokratie und Föderalismus, Stärkung des «Kerngeschäfts Men­schenrechte»)?

Die Schweiz sollte sehr konstruktive Arbeit des slowenischen Aussen­mi­nis­ters fortsetzen. Er erkannte die tiefen Gräben zwischen den das Mi­nisterkomitee bildenden und wegen des zu Hause unter ihren Fellow-Diplomaten einen viel zu kleinen Stellenwert geniessenden ER-Bot­schaftern und den Parlamentariern. Richtigerweise stützte er letztere gegenüber den Botschaftern.

Die Schweiz sollte in der schweizerischen und der europäischen Öffent­lichkeit deutlich machen, wie sehr es in vielen Ländern Mittel- (inkl. Bul­ga­rien und Rumänien) und Ostereuropas (Ukraine, Moldawien, Kauka­sus-Länder) mit der Achtung der Menschenrechte und der Realisierung de­mo­kratischer Minima hapert; wie sehr die Menschen dort, aber auch wir in Westeuropa, ein Interesse haben, dass entsprechende Lernprozesse ganz anders als bisher gefördert und die sich entgegenstellenden Oligarchen und Autokraten kritisiert werden müssen.

Die Schweiz sollte illustrieren, wie der mit dem Lissabonner Vertrag mög­lich werdende und von Barroso anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Ge­burts­tag in Strassburg zugesicherte Beitritt der EU zum Europarat dessen Herabminderung und Geringschätzung in einer ökonomischer und militärischer Macht erliegenden Welt widerspricht und dass zwischen beiden Institutionen eine ausbalanciertere Partnerschaft gestärkt werden muss.

Die Schweiz stand bisher für das Recht als internationale Verkehrsform ebenso wie für des­sen Transnationalisierung und wäre prädestiniert, weit mehr im und für den Europarat zu tun, als dies bisher auch von ihr getan worden ist.

Wie wichtig ist dieses Mandat für die aussenpolitische Rolle der Schweiz?

Es könnte ihr erlauben, an ihren alten, in den letzten 16 Monaten jedoch arg ramponierten Ruf wieder anzuknüpfen. Dazu müsste die Präsident­schaft aber vom ganzen Bundesrat als gemeinsame Aufgabe und Herausforderung verstanden werden, worauf bisher nichts hinweist. Sonst hätte Bundespräsident Merz im Oktober mit dem azerischen Präsidenten Alijew nicht einen Oligarchen in Bern empfangen, der ein grösserer Autokrat und ein dünnerer Demokrat als der russische Präsident Medwedjew ist, ohne dass er in der schweizerischen Oeffentlichkeit vernehmbar auf die katastrophale Lage der Menschenrechte in Aserbeidschan aufmerksam gemacht hätte!

Sind in diesem halben Jahr wichtige Weichenstellungen im (prekären) Verhältnis zu Russland und der Türkei zu erwarten? Welche Rolle könnte die Schweiz dabei spielen?

Wieviel zu erwarten ist, weiss niemand; doch die Verhältnisse sind aussichtsreich für einen Aussenminister, der sich im Namen des Europarates intensiv engagiert. Die beiden genannten Staaten haben beispielsweise den Schlüssel zur Befriedung des äusserst gefährlichen Konfliktes in Nagorno-Karabach in den Händen. Diesen Schlüssel gilt es zu gebrauchen. Vom Europarat und dessen Vorsitz können Lösungen beschleunigt werden. Wir können die Türkei stärken, indem wir einen türkischen Kollegen zum Vorsitzenden der parlamentarischen Versammlung des Europarates wählen werden Ende Januar! Die Türkei muss als Brücke zum Islam und zum Orient gestärkt werden, da kann die Schweiz mit ihrer institutionellen Integrationserfahrung von Vielfalt viel beitragen. Russland muss beginnen, die Wahlen von 2011 jetzt so vorzubereiten, dass sie etwas weniger unfair und unfrei werden als jene vor drei Jahren!!

Ganz grundsätzlich: Dem Europarat wird man nur gerecht, wenn man ihn weniger als aussenpolitisches Instrument sondern als wichtige Institution der europäischen Innenpolitik mit Schwerpunkt Entwicklung, Standardi­sierung und Respektierung der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechtstaates versteht. Die Parlamentarische Versammlung ist dabei der Ort, wo jedes damit zusammenhängende Problem aufgegriffen, debattiert und der Lösung näher gebracht werden kann im Wissen dessen, was die Bundeskanzlerin Merkel bei ihrer Rede im Frühjahr dieses Jahres for­mu­lier­te, wonach wir Parlamentarier in Sachen Menschenrechte keine Landesgrenzen akzeptieren sollten.

Für die engagiertesten Europäer sollte die Parlamentarische Ver­samm­lung des Europarates bei der Gründung vor 60 Jahren ja auch die ver­fas­sungsgebende Versammlung des integrierten Europa werden - was histo­risch aber damals nicht möglich war, auch an nationalen Souverä­nisten scheiterte, jedoch bis heute immer noch ein Hinweis dafür ist, wohin sich die EU zu bewegen hat. Denn Verträge schliessen die Bürger aus, Verfassungen kann man nur mit ihnen verabschieden.

In diesem Sinne hat die Geschichte des Europarates immer noch etwas von der Zukunft der EU in sich. Die Schweiz wäre prädestiniert, dies zum Ausdruck zu bringen. Das ist aber erst möglich, wenn Bundesräte und Botschafter darüber Bescheid wüssten und sich entsprechend seriös auch darum kümmern würden!


Kontakt mit Andreas Gross



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