21. Sept. 2009

Basler Zeitung
Bund

«Die Menschenrechte gehören angesprochen»


Von Regina Partyngl

Wer im Nordkaukasus einen Mord begeht, hat wenig zu befürchten – zu diesem Schluss kommt der Europarat. Der Nationalrat und Eu­ro­pa­rats-Berichterstatter für Tschetschenien, Andreas Gross, über die Gründe der Straflosigkeit. Andreas Gross ist SP-National­rat und einer der parlamentarischen Vertreter der Schweiz im Europarat. Er hat seit 2003 den Auftrag, Friedenslösungen in Tschetschenien zu evaluieren.

Warum scheut sich die Schweiz davor, den russischen Präsidenten auf die Menschenrechtssituation in Russland und speziell im Nordkaukasus anzusprechen?

Alles, was in den letzten Monaten zwischen der EU, den USA, Libyen und der Schweiz politisch und diplomatisch passiert ist, hat das Selbst­ver­trauen der offiziellen Schweiz erschüttert; heute mangelt es zu vielen Vertretern der offiziellen Schweiz gegenüber Grossmächten an Selbst­ver­trauen, Standfestigkeit und am Willen zum kritischen und trotz allem empathischen Dialog.

Wird der Bundesrat auf die Menschenrechte zu sprechen kommen?

Mittlerweile hat gewiss jeder Bundesrat gemerkt, dass in einem Ge­spräch mit dem russischen Präsidenten die Menschenrechte zur Sprache kommen müssen. Zumal er durchaus bereit ist, darüber zu sprechen, was seinem Premierminister Putin viel schwerer fällt, da dieser von Demokratie und Rechtsstaat weniger wissen will.

Angela Merkel hat Medwedew auf die Menschenrechte angesprochen. Hat die Schweiz mehr zu verlieren als Deutschland?

Gewiss nicht. Und die weltpolitische Irrelevanz der Schweiz, die Tatsache, dass sie keinem militärischen Bündnis angehört, macht sie gegenüber Grossmächten wie Russland glaubwürdiger. In offiziellen Gesprächen müsste die Schweiz entschiedener versuchen, Brücken zu bauen zwischen Europa und Russland, und diesem darlegen, dass ein glaubwürdiger Europarat in seinem ureigensten Interesse wäre. Der Europarat kann aber nicht glaubwürdig sein, wenn sein grosses Mitglied Russland nicht einige seiner grundlegendsten Werte achtet. Immerhin übernimmt die Schweiz im November den Vorsitz im Europarat.

Gehört es zu den diplomatischen Gepflogenheiten, die Menschenrechte unter Staatschefs nicht anzusprechen?

Wenn dem so wäre, dann machen sich alle Staatschefs mitschuldig am Unrecht, das auf dieser Welt geschieht. Deshalb müsste ein Schweizer Bundesrat, der auch als Bundespräsident kein Staatschef ist, aus dieser Gepflogenheit ausbrechen, wenn sie denn eine solche ist.

Russland wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schon über 100 Mal wegen Menschenrechtsverletzungen allein in Tschetschenien verurteilt. Weshalb setzt Russland die Urteile nicht um?

Die juristische Führung Russlands achtet den Gerichtshof sehr, während die politische Führung gespalten ist. Die einen – die Gleichen, die sich immer noch nach einem Russland als Imperium sehnen – verachten Europa und die Menschenrechte zu sehr, während die anderen nicht in der Lage sind, der russischen Politik die europäischen Grundwerte zugrunde zu legen.

Wie könnte Russland zur Umsetzung der Urteile gebracht werden?

Es liegt in der Verantwortung des Ministerkomitees, für die Durchsetzung der Urteile besorgt zu sein. Und es sollte sich nicht nur Russland entschlossener zuwenden: Über zehn Staaten haben Urteile seit mehr als zehn Jahren nicht umgesetzt. Wir sind in der Parlamentarischen Versammlung zurzeit daran, einen entsprechenden Bericht zu schreiben. Diese Ignoranz der Exekutiven ist unerhört und inakzeptabel.

Beschränkt sich Russland darauf, Entschädigungen zu zahlen, statt Täter konsequent zu verfolgen?

Auch wenn man den Verlust von Menschenleben nie mit Geld aufrechnen kann – alle einfachen Bürgerinnen und Bürger der Russischen Föderation schätzen deren Mitgliedschaft im Europarat, denn diese erlaubt ihnen den Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und somit die kritische Evaluation und Überwachung ihrer eigenen, in vielerlei Hinsicht immer noch völlig ungenügenden Justiz.

Die Gewalt im Nordkaukasus nimmt zu. Die nordkaukasischen Teilrepubliken Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan gehören zu Russland. Sind die russischen Gesetze schlecht oder zeitigen sie im Nordkaukasus keine Wirkung?

Beides bis zu einem gewissen Grad: Erstens entspringen die zentralen Gesetze nicht einer echt föderalistischen Kultur. Zweitens wird zu wenig für die Umsetzung der Gesetze getan. Drittens sind in den Republiken die gesetzgebenden Organe zu wenig in der Lage, ihre Selbstver­wal­tungs­kom­pe­tenzen im Interesse ihrer Bürgerinnen und Bürger wirklich wahrzunehmen.

Warum?

Moskau delegiert zu viel an die Ministerpräsidenten der Teilrepubliken, die meist – am schlimmsten ist Kadyrow in Tschetschenien – die Demokratie wenig respektieren und ihre Interessen rücksichtslos mit Gewalt durchzusetzen suchen.

Sie haben nichts zu befürchten. Der Europarat prangert die Straflosigkeit im Nordkaukasus an. Welches sind die Gründe für die mangelnde Strafverfolgung?

Gewalt wird von viel zu vielen als Mechanismus zur Konfliktregelung und als politische Grundverkehrsform akzeptiert. Menschenrechte und Demokratie sind aber die Antithesen zur Gewalt. Es gibt einen riesigen historischen Lernbedarf, der von Moskau viel mehr gefördert und unterstützt und nicht im Namen der globalen Anti-Terror-Bekämpfung vernachlässigt oder gar torpediert werden sollte.

Der tschetschenische Präsident Kadyrow sagt, Islamisten respektive Rebellen würden Menschenrechtler umbringen, um ihn zu diskreditieren. Wie plausibel ist das?

Ausschliessen kann man leider in dieser Gegend gar nichts. Er wäre aber mit solchen Thesen glaubwürdiger, wenn er seine eigenen alten und neuen Verfehlungen eingestehen und endlich garantieren würde, dass auch jene in seinem Umfeld, die Andersdenkende töten, um ihm zu gefallen und in seiner Wertschätzung zu steigen – auch wenn sie ihn vielleicht nicht direkt gefragt haben –, damit aufhören.

Welche Konsequenzen hat der Abgang der angesehenen Menschenrechtsorganisation Memorial aus Tschetschenien?

Dieser Rückzug ist verständlich, doch in seinen Folgen katastrophal. Die Gewalt in der Region war nach dem Ende der eigentlichen Kriegs­hand­lun­gen noch nie so hoch wie heute. Nun kann niemand mehr nach aussen bezeugen, welche Grausamkeiten dort begangen werden.

Welche Menschenrechtsorganisationen sind in Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan noch tätig?

Gemäss meinen Informationen sind nach dem Rückzug von Memorial keine Menschenrechtsorganisationen mehr präsent; nur noch einzelne Menschen mit entsprechenden Kontakten, die aber verständlicherweise grosse Angst haben, sich öffentlich zu äussern.


Kontakt mit Andreas Gross



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