6. Juni 2009
Tages-Anzeiger
Zürich
In diesem Artikel werden Spesengelder angesprochen. Näheres erfahren Sie aus diesem Briefwechsel.
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«Bürger, die nicht wählen, haben nie Recht»
Von Luciano Ferrari
Er ist ein glühender Europäer und vehementer Verteidiger der Demokratie. Doch selbst Andreas Gross verfolgt mit Sorge die Wahlen ins EU-Parlament. Er ist Zürcher SP-Nationalrat, Fraktionspräsident der Sozialdemokraten im Europarat und Leiter des Ateliers für Direkte Demokratie in St-Ursanne.
Die Bürger wenden sich von Europa ab. Bei den Wahlen zum EU-Parlament am Wochenende wird eine rekordtiefe Beteiligung erwartet. Was läuft schief?
Es kommen derzeit viele Entwicklungen zusammen, die insgesamt für die EU verheerend und für die Europäerinnen und Europäer deprimierend sind: Die Politik ist in einer Krise, die Menschen haben existenzielle Ängste, und das EU-Projekt selbst steckt in einer Reformblockade. Nicht zu reden von den nationalen Politikskandalen, wie in Ungarn oder Grossbritannien, die ein Umfeld schaffen, das die Bürger noch weniger dazu motiviert, wählen zu gehen. Wer es trotzdem tut, wird entweder aus der EU-Wahl eine nationale Protestwahl machen und/oder ganz rechte, das heisst nationalistische Parteien wählen. Das ist kein guter Moment für die europäische Integration.
Wird die EU als Deregulierungsprojekt für die Krise mit verantwortlich gemacht?
Ja, gewiss. Die Menschen haben zu Recht den Eindruck, dass die Politik der EU nicht das geliefert hat, was viele sich von ihr erhofft hatten. Die Politik hat ihr Primat gegenüber der Wirtschaft aufgegeben. Die Idee der Demokratie besteht seit der Französischen Revolution darin, dass das Leben nicht einfach Schicksal ist. Heute aber zeigt sich für viele Menschen, dass ihr Leben eben doch fremdbestimmt wurde, nicht von einem König oder Gott, sondern vom Kapital und den Märkten, die man machen liess. Und zwar auch auf der EU-Ebene, wo man sie dazu hätte zwingen können, auf die Menschen und die natürlichen Lebensgrundlagen Rücksicht zu nehmen. Die EU hätte ein wesentlicher Schritt sein können, die grossen Erwartungen an Demokratie und Politik zu realisieren. Sie ist aber gescheitert.
Wann genau ist die EU gescheitert?
1990 hat sie eine grosse Chance verpasst. Mit der Schaffung des Euro hätte man der Gemeinschaft auch eine anständige politische Struktur mit einer eigenen, transnational verfassten starken Demokratie geben können. Heute haben wir eine europäische Zentralbank, eine Einheitswährung, aber keine Basis für eine europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, um die Märkte zu zivilisieren. Das EU-Parlament wird zwar stärker und stärker, aber es ist immer noch kein Parlament, das ein eigenes Initiativrecht hat, um Gesetze anzustossen.
Sie plädieren für einen EU-Staat?
Ja, für einen föderalistisch-demokratisch verfassten Bundesstaat! Die EU ist so wichtig, weil sie einen ersten Schritt realisieren muss, hin zu supranationalen institutionellen Strukturen, die auch weltweit nötig sind, um die globalisierten Märkte einzuhegen.
War die EU Anfang der 90er-Jahre nicht in sozialdemokratischer Hand?
Ich gebe selbstkritisch zu, dass die Sozialdemokraten damals das Verfassungsprojekt zu wenig ernst genommen haben.
Weil auch sie sich vom Glanz der Globalisierung blenden liessen?
Man hat nicht erkannt, dass mit der wirtschaftlichen Globalisierung auch die Demokratie hätte globalisiert werden müssen. Zu viele haben à la Tony Blair den Neoliberalismus gefördert und der Schwächung der Politik gegenüber der Ökonomie zu wenig entgegengesetzt. Die Quittung dafür sehen wir heute: Waren damals zwei Drittel der nationalen Regierungen in sozialdemokratischer Hand, ist es heute noch knapp ein Viertel.
Die Krise führt zu einer «Re-Nationalisierung» der Politik in Europa.
Ja, der übliche Reflex. Das Problem ist nur, dass auch die Nationalstaaten selber in einer tiefen Krise stecken. Nicht nur finanz- und steuerpolitisch. Gerade in den neuen EU-Mitgliedsstaaten, die bis vor 20 Jahren unter einem totalitären Regime standen, kann man beobachten, dass die Demokratie alles andere als gefestigt ist. Einige liebäugeln mit autoritären Staatsformen, China wird als «Modell» verstanden. Die Demokratie als vernünftiges humanes Ordnungs- und Lebensprinzip wird infrage gestellt. Das führt zu einer hochgefährlichen Situation. Es gibt wohl keinen ungünstigeren Termin für Europawahlen als den morgigen 7. Juni.
Wäre es besser, die Bürger würden zu Hause bleiben?
Bürger, die nicht wählen, haben nie Recht. Das Problem ist, dass die EU-Wahlen zu nationalen Ersatzwahlen verkommen. Die einzige Chance, über ein anderes, besseres Europa zu debattieren, wird damit verschenkt. Die Bürger müssten auf ihre nationalen Hauptstädte Druck ausüben und ein alternatives europäisches Projekt einfordern.
Das tun sie aber nicht.
Nein, es kommt vielmehr an vielen Orten zu einer nationalistischen Regression. Man erkennt nicht, dass gerade ein Zuviel an falscher Autorität und die enormen wirtschaftlichen und politischen Demokratiedefizite zur aktuellen Krise geführt haben.
Besteht die Gefahr einer autoritären Regression auch in der Schweiz?
Die Schweiz hat eine grosse Stärke: Sie besteht darin, dass der Bürger nicht nur wählen, sondern auch abstimmen kann. Das führt zu einer sehr heilsamen Teilung der Macht, die durch den starken Föderalismus noch verstärkt wird. Das fehlt vielen EU-Staaten, in denen die Macht horizontal und vertikal hoch konzentriert ist. Zudem haben viele kein offenes Proporzwahlrecht. Wenn sie eins haben, dann bestimmen die Parteipräsidien die definitiven Wahllisten, sodass kein Panaschieren und Kumulieren möglich ist. Das führt zu wenig eigenständigen Fraktionen und Parlamenten. Oder nehmen Sie das extreme Mehrheitswahlrecht in Grossbritannien. Es gibt den Menschen das Gefühl, nichts ändern zu können, weil sie nur zwei Parteien zur Auswahl haben. Die Folge sind autoritäre Strukturen, die mündige Bürger enorm frustrieren.
Zeigt der britische Spendenskandal nicht auch, dass die politische Elite - wie die ökonomische - längst als Kaste und «Classe politique» abgehoben hat? Ihnen wird vorgeworfen, Sie seien der grösste Spesenritter im Schweizer Parlament. Was sagen Sie dazu?
Es wäre absurd, das eine mit dem anderen zu vergleichen. Im gleichen Moment, da vielen deutlich wird, wie wenig sich unser Bundesrat in der Welt zu behaupten weiss, werden die wenigen Nationalräte kritisiert, die sich der Welt oder zumindest Europa zuwenden. Wer die Welt so schlecht versteht, muss sich nicht wundern, wenn er von ihr so verlassen wird wie heute die Schweiz. Die Demokratie können wir nicht retten, indem wir uns der Welt einfach verschliessen. Wir müssen sie ganz im Gegenteil auch europäisch und global verankern. Dafür müssen wir etwas tun, nicht nur davon reden.
( -- «Spesen»-Details in Franken erfahren Sie aus einem Facebook-Briefwechsel. -- )
Haben Ihre Reisen auf Staatskosten den Schweizern konkret etwas gebracht?
So wie ein Journalist ohne Telefon, kann ein Demokrat in Europa ohne Reisen nicht an der Demokratisierung Europas arbeiten. Je besser dies gelingt, desto besser geht es auch den Schweizern, desto weniger Angst müssen sie haben, desto weniger sind sie allein. Die glaubwürdigste Antwort könnten Ihnen viele Bürgerinnen und Bürger Aserbeidschans, Tschetscheniens oder Serbiens geben. Sie haben einen Schweizer am Werk erlebt, der ihnen Hoffnungen zurückgab sowie die Erfahrung, in ihrem Engagement für Demokratie und Menschenrechte nicht allein zu sein. Das hat grossen Respekt bewirkt, der auch der Schweiz zugute kommt.
Was hat die britischen Parlamentarier dazu getrieben, sich so schamlos zu bedienen? Kann man von einer Ökonomisierung der Politik sprechen?
Es gibt eine Krise des Politischen: Vielen ist nicht mehr klar, was der Kern des Politischen - der wesentliche Unterschied zur Wirtschaft - ist. Selbst in der SP: Da sagte doch kürzlich ein Kantonalpräsident, nachdem er die Wahlen verloren hatte, er müsse jetzt populistischer werden, mit mehr Schlagwörtern operieren ...
... die Verpackung ändern.
Genau. Doch Bürger und Bürgerinnen sind keine politischen Konsumenten. Eine Partei kann man nicht «verkaufen» wie eine Suppe. Der Ausweg aus der Krise ist deshalb auch kein grösseres «Angebot»: Es ist die Rückkehr zum Kern der Demokratie, zum Prinzip, dass jeder, der von Entscheidungen betroffen ist, auch am Entscheidungsprozess beteiligt werden muss. Der Fehler der letzten 20 Jahre war, dass man gemeint hat, man könne den Staat und den Service Public wie ein gut geführtes privatwirtschaftliches Unternehmen organisieren.
Hat dieses Denken die Schweiz in die gegenwärtige Isolation geführt?
Die Schweiz hat viel zu lange gemeint, alles alleine besser machen und die Interessen anderer gar ignorieren zu können. Das führte aber nur dazu, dass man so nicht einmal das eigene Interesse formulieren konnte. Am Ende machte sich der Bundesrat, wie ein Prokurist des Direktoriums, die UBS-Interessen zu eigen ...
... auch Ihre eigene Aussenminister Micheline Calmy-Rey ...
... sie hat das Bankgeheimnis viel zu lange verteidigt. Nachdem sie festgestellt hatte, dass 15 Prozent der Arbeitsplätze in Genf vom Bankgeheimnis abhängen, machte sie es zu ihrem Anliegen. Sie sollte endlich ein klärendes Wort dazu sprechen. Es ist nicht schlimm, sich zu irren. Schlimm ist es, wenn man einen erkannten Irrtum nicht eingesteht. Entscheidend aber war, dass die Schweiz lange glaubte, die Weltprobleme würden sie nicht betreffen.
Das Sonderfalldenken ist der Schweiz zum Verhängnis geworden?
Jeder Staat ist ein besonderer Fall - und dennoch Teil eines Kontinents und der Welt. Er kann dieses Umfeld nicht ignorieren und muss lernen, sich auch mit den Augen der andern zu sehen. Die Schweiz hatte in den letzten 160 Jahren auch viel Glück. Wir sind nicht versehrt worden von den drei grossen europäischen Kriegen von 1870 bis 1945. Das hat uns zu selbstbezüglich, gar selbstherrlich gemacht. Es brauchte eine Grossmacht wie die USA, um die Diskussion über die Holocaust-Gelder anzustossen, oder jetzt die EU, um die Steuerdebatte zu lancieren.
Wie findet die EU aus dieser Krise?
Die gegenwärtige Unfähigkeit der EU, sich nach innen zu reformieren, stellt ihre grösste Friedensleistung infrage: die Integrationsfähigkeit. Wir müssen wieder darüber reden, was Europa soll, was es will. Die EU braucht neue Impulse. Das Resultat wird sein, dass ein föderalistisches Europa entsteht, das Vielfalt bewahrt und demokratische Einheit ermöglicht, das aber auch auf der transnationalen Ebene die Menschen in wesentliche Entscheidungen mit einbezieht. Ein Europa, in dem der Bürger nicht nur wählen, sondern auch per Referendum die Verfassungsentwicklungen mitbestimmen kann: Das würde auch den geheimsten Wünschen vieler Schweizer entgegenkommen.
Glauben Sie im Ernst, dass sich die EU in diese Richtung entwickelt?
Europa ist nach der Gründerzeit von 1945 bis 1951 nie mehr Gegenstand einer sozialen Bewegung gewesen. Die gegenwärtige Krise könnte aber genau das bewirken. Die Menschen könnten sich Europa zu eigen machen. Denn die Einsicht wächst, dass man die Ursachen der gegenwärtigen Krise nicht national bewältigen kann. Es gibt ein unausgeschöpftes Potenzial in der europäischen Gesellschaft für eine Demokratisierung und Neugestaltung der europäischen Integration. Für eine Politik, die nicht nur ein Untersystem der Wirtschaft ist, sondern eine eigene Kategorie mit eigenen Werten und vor allem der Legitimität, die Wirtschaft zur Rücksichtnahme auf die Menschen und die Natur zu zwingen.
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