05. Mai 2009

Neue Zürcher Zeitung

Vor 60 Jahren wurde der Strassburger Staatenbund
nach den Verheerungen des Krieges gegründet

Der Europarat als Pionier
der europäischen Einigung



Vor 60 Jahren wurde in London der Europarat gegründet. Die Regierungschefs von zehn Ländern schufen damals die erste Institution des europäischen Integrationsprozesses. Als zentrale Grösse löste ihn 20 Jahre später die EU ab. Überlebt hat der Europarat als Zentrum eines europäischen Rechtsraumes von
über 800 Millionen Menschen.


Von Andreas Gross
Andreas Gross ist Politikwissenschafter, Zürcher SP-Nationalrat und seit Januar 1995 Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europa­ra­tes, deren sozialdemokratische Fraktion er seit 15 Monaten präsidiert.

(Bild: Reuters)
Der Saal der Parlamentarischen Versammlung
des Europarats in Strassbourg


Als am 5. Mai 1949 in London die Regierungschefs von Belgien, Dä­ne­mark, Frankreich, Grossbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Nor­we­gen, Schweden und der Niederlande den Gründungsvertrag des Euro­pa­ra­tes unterzeichneten, legten sie den Grundstein der europäischen Integration, eines der grössten Friedenswerke der vergangenen 200 Jahre. Dort, wo seit Hunderten von Jahren alle paar Jahrzehnte Kriege Hunderttausende von Menschen in Not und Elend versinken liessen, sollte Krieg kein Mittel der Politik mehr sein. Europa, das im «langen europäischen Bürgerkrieg von 1914 bis 1945» über zehn Prozent seiner Menschen verloren hatte, sollte von dieser «Geissel der Menschheit» erlöst werden.

Im Schatten der Europäischen Union

So grundlegend und tragend das Fundament des Europarats war, das vor 60 Jahren gelegt wurde, so sehr führte der in ihm zementierte politische Kompromiss dazu, dass die Organisation das ihr von ihren Pionieren übertragene Projekt nur unzulänglich verwirklichen konnte, dass andere Institutionen, vor allem die Europäische Union, ihr den Rang abliefen und die europäische Integration bis heute unvollendet ist. Dies ist nicht nur quantitativ gemeint, sondern auch qualitativ, wenn man an das einstige Projekt der Pioniere, die demokratische und föderalistische Verfassung Europas, denkt. In diesem Sinne schlummern auch in der Geschichte des Europarates noch einige Elemente der Zukunft der Europäischen Union und der Integration.

Deutlich wird dies durch die Vorstellungen der Gründer, welche zum Ausdruck brachten, weshalb sich nach dem Krieg die Vertreter der demokratischen Parlamente in Strassburg treffen und in einer euro­pä­ischen parlamentarischen Versammlung die Verfassung einer neuen Europäischen Föderation ausarbeiten sollten. So schrieb der Franzose Léon Blum (1872–1950) 1941 in einem Gefängnis in Vichy kurz vor seiner Deportation in ein deutsches Lager: «Unweigerlich werden die territorialen Probleme früher oder später durch Gewalt ausgetragen werden, wenn nicht der Begriff der Grenze sich abnützt ... und die Nationen eng genug zu einer internationalen Gemeinschaft zusammenfinden. Diese muss mit den Organen und der Macht versehen sein, die ihr die Erfüllung ihrer Funktionen erlauben.»

Suche nach einem internationalen Gesetz

Der Italiener Altiero Spinelli schrieb ebenfalls 1941 in seinem Manifest von Ventotene: «Die Übel der internationalen Unordnung rühren einzig und allein daher, dass es kein internationales Gesetz gibt ... Die fö­de­ra­tive Autorität muss über diejenigen Machtmittel verfügen, mit denen sie unter die exklusiv eingestellte nationale Politik den endgültigen Schluss­strich zu ziehen vermag.» Und der Schweizer Denis de Rouge­mont verteilte im August 1950 zum Jahrestag der ersten Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Strassburg ein Flugblatt, in dem er die Parlamentarier aufrief, endlich mit den Verfassungsarbeiten voranzu­kom­men und auf die «scheinbare Souveränität» zu verzichten. Er sagte: «Wie kann man aufgeben, was man nicht mehr hat?»

Doch diese politische Utopie der Pioniere erwies sich angesichts des be­ginnenden Kalten Krieges als unmöglich. Aus dem Europarat wurde kei­ne verfassunggebende Versammlung der Vereinigten Staaten Europas, sondern eine intergouvernementale Organisation, die über keine eigene Souveränität verfügt. Sie wurde vielmehr zu einem Ort der europäischen Innenpolitik, der Entwicklung eines europäischen Rechtsraumes, arbei­te­te bis heute über 200 Konventionen aus, was über 10 000 bilateralen Verträgen entspricht.

Aufgenommen wurde die Notwendigkeit der Delegation und der Teilung der nationalen Souveränität durch die 1951 vor allem von den Franzosen Monet und Schuman betriebene Montanunion, die Europäische Kohle- und Stahlgemeinschaft, aus der 1957 die EWG und schliesslich die EG und die Europäische Union hervorgingen. Monet und Schuman hatten erkannt, dass die Wirtschaft der Politik vorangehen muss, dass die Verfassung durch einen Vertrag gesichert werden soll und dass die Regierungen die Akzente zu setzen haben, für welche die Bürger die Kraft und die Einsicht noch nicht aufbringen konnten.

Dennoch ist die Schaffung der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1952 sowie des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs mit der Möglichkeit der Individualbeschwerde jedes einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bürgerin eines Europarats-Mitgliedsstaates nicht ohne den Überschuss an Zukunft zu erklären, welche die Pioniere dem Europarat zugemutet haben. In der Tatsache, dass ein Bürger seinen Staat bei einem internationalen Gerichtshof einklagen kann, kommt eine Figur zum Tragen, deren Bedeutung auch für die kommenden notwendigen globalen Reformen zur Humanisierung der Globalisierung und die Entwicklung einer globalen Demokratie nicht unterschätzt werden kann.

Trotz der wirtschaftlich immer wichtiger werdenden EWG blieb der Europarat bis Ende der 1950er Jahre die zentrale Grösse der europäischen Integration. Da diese auch in den 60er Jahren nur schleppend vorankam (keine Erweiterung der EWG bis 1973, keine Gipfel), behielt der Europarat diese Bedeutung bis etwa Ende der 1970er Jahre. Für die Demokratisierung Spaniens, Portugals und Griechenlands war er von entscheidender Hilfe, doch die erste Direktwahl des Europäischen Parlamentes bildete die Zäsur. Immer mehr übernahm die heutige EU die Funktion des Motors. Der Europarat unterliess es, sich den Rat Willy Brandts zu Herzen zu nehmen, sich der Demokratisierung Mittel- und Osteuropas und somit der Überwindung der Spaltung Europas wirklich zu widmen. So war er Anfang der 1980er Jahre eher ein Klub der privilegierten Westler und konnte eine neue wichtige Rolle erst nach 1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, übernehmen, als er bei der Verwandlung der mittel- und osteuropäischen Länder eine entscheidende Rolle übernahm. Dies war eine Aufgabe, die bis heute nicht abgeschlossen ist und die aufgrund der mangelnden Ressourcen des Europarats äusserst schwierig ist.

Russland als harter Brocken

Dies gilt umso mehr, als ihm vor zehn Jahren auch der grosse Brocken Russland und etwas später der ganze Kaukasus zur Demokratisierung aufgebürdet wurden. Hier waren Länder und Regionen, in deren Geschichte die Menschenrechte nur Spurenelemente hinterlassen haben, deren Bewohner sich aber mehrheitlich nach ihnen sehnen wie die meisten Europäerinnen und Europäer. Sie sind Symbol der jetzigen und künftigen Aufgabe des Europarates, die seine Existenz mehr als nur legitimiert. Der jüngste Krieg zwischen Georgien und Russland, der erste zwischen zwei Mitgliedsländern des Europarates, zeigt allerdings, wie schwierig diese Aufgabe ist und wie umgekehrt proportional die Mittel sind, die ihm zu deren Bewältigung zur Verfügung stehen.


Graphik: NZZ

In 60 Jahren von 10 zu 47 Mitgliedsstaaten

Mai 1949:
gegründet von 10 Staaten (Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Norwegen, Schweden und den Niederlanden)

Ende 1949:
12 Mitgliedstaaten, nach Beitritt der Türkei und von Griechenland im August 1949

Ende 1959:
15 Mitgliedsländer (plus Island, Österreich, Bundesrepublik Deutschland)

Ende 1969:
18 (plus Zypern, die Schweiz und Malta; Griechenland wurde vom 31.12.69 bis 1974 ausgeschlossen)

Ende 1979:
21 (plus Portugal, Spanien, Liechtenstein)

Ende 1989:
23 (plus San Marino und Finnland)

Ende 1999:
41 (plus Ungarn, Polen, Bulgarien, Estland, Litauen, Slowenien, die Tschechische Republik, Slowakei, Rumänien Andorra, Lettland, Moldau, Albanien, Ukraine, Mazedonien, Russland, Kroatien, Georgien)

Mitte 2009:
47 (plus Armenien, Aserbeidschan, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro)


Kontakt mit Andreas Gross



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