1. Mai 2009

Rede zum Tag der
Arbeit in Brugg AG

Freiheit darf nicht zu einem Privileg
werden, wenn die Freiheit die
Gerechtigkeit nicht zerstören soll



10 Erkenntnisse und Ausblicke zum 1. Mai 2009

1. Mai: Tag, an dem wir politisch Engagierten, Linken, Sozialdemo­kra­tin­nen, innehalten und nachdenken. Uns über unseren Ort und unseren Kurs klar werden, und uns fragen: Tun wir, was wir können? Tun wir, was zu tun ist? Können wir anders mehr?

Kaum je in den vergangenen 25 Jahren ist dies Innehalten so sinnvoll und so hoffnungsvoll - genauer: So ermutigend für uns.

Denn die grosse Krise, von welcher die Welt in vielerlei Hinsichten in letzten Monaten erfasst wurde, brachte zum Ausdruck wie irrig viele Behauptungen, Einstellungen, Handlungsweisen sich erwiesen, deren Weisheit und Weltverträglichkeit wir Linke seit Jahren bezweifelt haben. Denkt nur an die Vergöttlichung des Marktes allein, an den Glauben an die Börse, den Shareholder-Value, an den Superprofit und die Super­ren­di­te, an das Geld als das einzig Wahre im Leben des Menschen, an die Erniedrigung der Politik, des Staates, der Gemeinschaft, des Gemeinschaftlichen.

Viele haben etwas gemerkt. Doch noch zu wenige lassen sich davon auch zu Neuem, wenigstens zu einem neuen Aufbruch ermutigen. Zu gross ist die totale Verunsicherung, die viele von uns erfasst hat, zu lähmend die Orientierungslosigkeit, die selbstverständlich auch von existenziellen Ängsten begleitet und verstärkt wird.

Da ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass es völlig unmöglich ist, allein eine solche wirtschaftliche und auch politische Krise zu bewältigen. Alleine kann man da nur verzweifeln. Bewältigen, auch nur erkenntnis­mäs­sig, kann man sie nur in einer Gruppe, in der wir oft und präzis miteinander diskutieren und nachdenken können. Nicht im Sinne des sich Anfeindens, des sich schlecht Machens, des die eigene Meinung Überhebens, wie wir dies am Arena-Freitagabend oft beobachten können, sondern des Diskutierens auf der Basis des Wissen, dass keiner allein alles wissen und erkennen kann, und dass wir den anderen nötig haben, um der Wahrheit ein Stück näher zu kommen. Eine gute Diskussion kann man bekanntlich daran messen, ob alle klüger aufhören können als sie angefangen haben.

Deshalb bin ich auch glücklich, dass wir heute nicht nur eine 1. Mai Rede hören, sondern auch miteinander diskutieren können, zuerst im grossen Rahmen und dann in kleiner Runde untereinander. Ich bin auch gerne bereit, wieder zukommen, wenn Euch dies sinnvoll erscheint.

Damit wir dies etwas zielgerichteter tun können, möchte ich zehn Thesen formulieren, welche anzusprechen versuchen, was wir bereits heute aus der Krise lernen, wo wir uns bestätigt fühlen, wo wir noch mehr nachdenken und in welcher Richtung wir vermehrt auch politisch handeln müssen. Diese Thesen sind als Einladungen zu verstehen, zu widersprechen, sie zu vertiefen, sie weiter zu entwickeln.

1.
Die Wirtschaft und ihre Märkte dürfen nicht sich selber überlassen werden, wenn die Würde der Menschen und der Natur nicht kaputt gehen sollen.

2.
Es braucht einen starken Staat, der Regeln setzt, an die sich alle zu halten haben, auch die ganz Grossen, damit die Gemeinschaft nicht an ihren Verirrungen zerbricht.

3.
Damit dieser Staat aber wirklich die Interessen der Menschen nicht aus den Augen verliert, muss er fein demokratisiert sein und die Demokratie eine Infrastruktur bekommen, die allen erlaubt, ihre Teilnahmerechte auch wahrzunehmen und der politische Wettbewerb fair wird: Freiheit darf nicht zu einem Privileg werden, wenn die Freiheit die Gerechtigkeit nicht zerstören soll.

4.
Unter dem Staat ist in diesem Zusammenhang nicht nur der Staat im traditionellen Sinne des National- oder Bundesstaates zu verstehen. Es geht um die Staatlichkeit als Ort, wo um die Interessen der Gesellschaft gerungen wird, und die auch oberhalb des traditionellen Staates, auf der europäischen und globalen Ebene eingerichtet und demokratisiert werden muss. In diesem Sinne braucht die EU eben nicht nur mehr Demokratie, sondern die Demokratie braucht auch Europa, wenn sie nicht zu einer Scheindemokratie verkommen soll.

5.
Dies bedeutet auch, dass wir global politische Leitlinien setzen müssen, in der Finanzwelt wie auch zum Schutz des Klimas. Es geht aber nicht an, dass die Mächtigen sich selbst organisieren wie in der G20. Auch da müssen alle, die von den Regeln betroffen sind, an deren Zustandekommen mitwirken können. Deshalb ist die Reform der UNO so wichtig.

6.
Hier können wir auch lernen, dass, wer sich wie die Schweiz zu lange nicht um die Welt kümmert, nicht nur sich nicht wundern muss, wenn die Welt sich einen Deut um uns schert, wenn wir mal Sorgen haben, sondern dass wir dann auch an Freiheit verlieren. So war die Nichtteilnahme der Schweiz als siebtgrösster Finanzplatz an der G20 die grösste aussenpolitische Niederlage der Schweiz und hat zur Folge, dass sie finanzpolitisch die Freiheit der Selbst- und Mitbestimmung zu verlieren droht.

7.
Doch auch fiskalpolitisch muss die Schweiz lernen, sich endlich auch mit den Augen der Anderen betrachten zu lernen. Wir können keine Banken- und Steuergesetze verteidigen, welche für Bürger anderer Staaten eine permanente Einladung sind, die Steuern zu Hause nicht zu bezahlen. Öffentliches Geld ist zu rar geworden, als dass sich die Anderen dies länger gefallen liessen. Die Schweiz tut gut daran, dies möglichst schnell zu verinnerlichen.

8.
Regeln und Gesetze braucht es immer dann, wenn der Einzelne sich nicht von sich aus bemüht, so zu leben, dass er allen damit nicht schadet. Zu Viele, die lange auch bei uns über Gesetze und den Staat geschimpft haben, haben nun, schmerzlich für alle, illustriert, wie sie sich in den vergangenen Jahren einen Deut ums Ganze geschert haben und nur an sich gedacht haben. Deshalb sind neue und zusätzliche Regeln im Bereich der Löhne, der Steuern und der grossen Wirtschaft angebracht.

9.
Unglaubliche Summen sind in den vergangenen Monaten verprasst worden. Das führte auch zur Krise der Realwirtschaft und täglich auch bei uns zu Dutzenden von Entlassungen. Arbeitslos werden heute in der Regel jene, die am Zusammenbruch der Finanzwirtschaft wenig oder keine Schuld tragen. Deshalb geht es nicht an, dass ihnen nun die Bürde übertragen wird, die diese Krise bedeutet. Das heisst, heute dürfen nicht nur keine Kürzungen des Sozialstaates erfolgen, sondern die Leistungen für die Kurzarbeiter und Erwerbsarbeitslosen und vor allem ihre Weiterbildungs- und Neuqualifizierungschancen müssen verstärkt werden.

10.
Gescheitert sind in der Krise all jene, die glaubten, wenn jeder nur für sich schaue, dann gehe es allen automatisch am besten. Wir Sozialdemokraten haben längst gesagt, dass dies eine irreführende Ideologie ist. Deshalb müssen wir nun aber viel deutlicher machen, wie die Balance zwischen berechtigten individuellen Bedürfnissen und dem Gemeininteresse neu gefunden werden kann.

Dies kann aber nur geschehen, wenn der Ort der Politik wieder aufgewertet wird. Und auch die SP musst wieder mehr sein als ein Wahlverein und ein Vehikel zum Postenmanagement: Wir brauchen die SP heute mehr denn je als Ort, wo wir miteinander die Krise bewältigen können; intellektuell, nachdenkend, diskutierend und so die notwendigen gemeinsamen Handlungsgrundlagen und Perspektiven schaffend.

In diesem Sinn muss gerade in diesem Jahr jeder Tag auch ein klein wenig etwas vom heutigen 1. Mai behalten und wir müssen etwas von heute ins ganze Jahr tragen.


Kontakt mit Andreas Gross



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