06. Feb. 2009
NZZ Neue Zürcher Zeitung
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50. Volksabstimmung in Europa über Europa
Der kommende Sonntag als direktdemokratische Wegmarke im Europäischen Integrationsprozess
Von Andreas Gross
Andreas Gross ist Politikwissenschaftler, spezialisiert auf Fragen der Direkten Demokratie und Präsident der sozialdemokratischen Fraktion im Europarat in Strassburg.
Der kommende Sonntag ist nicht nur für die Fortsetzung der bilateralen Vertragsbeziehungen der Schweiz mit der Europäischen Union (EU) bedeutsam. Die schweizerische Referendumsabstimmung ist auch die 50. Volksabstimmung seit 1972 in Europa über europäische Angelegenheiten.
Insgesamt gab es unter den etwa 200 Staaten dieser Welt bisher etwa 1500 nationale Volksabstimmungen. Zwei Drittel von ihnen fanden in den letzten 40 Jahren statt. Wiederum zwei Drittel von diesen, also etwa 600, in Europa. Davon hatten wiederum nicht ganz zehn Prozent Fragen der europäischen Integration selber zum Gegenstand. So ist die nächste schweizerische Volksabstimmung über die Fortführung der bilateralen Verträge mit der EU die 50. Volksabstimmung seit 1972, welche Europa selber zum Gegenstand der politischen Beurteilung durch die Bürgerinnen und Bürger hat.1
Die Schweiz mit Irland und Dänemark Spitze
Mehr als einmal über Fragen der europäischen Integration und der Beziehungen zu dieser abgestimmt haben seit 1972 die folgenden Staaten: Die Schweiz (inklusive des kommenden Sonntag) neun Mal, Irland sieben Mal, Dänemark sechs Mal, Frankreich und Norwegen (3), Schweden und Liechtenstein je zweimal. Deutschland ist der einzige EU-Mitgliedstaat, dessen Wahlberechtigte sich noch nie in einem Referendum über Fragen der europäischen Integration äussern konnten. Entsprechend ist der allgemeine Kenntnisstand in der deutschen Bevölkerung über Fragen der europäischen Integration vergleichsweise geringer als in Dänemark.
Das südlichste der nordischen Staaten verankerte schon 1953, also 19 Jahre vor seinem EU-Beitritt, in seiner Verfassung, dass Fragen der europäischen Integration, insbesondere der Transfer von staatlicher Souveränität an die EU, nur dann dem dänischen Volk nicht zur Abstimmung vorzulegen seien, wenn mindestens fünf Sechstel des dänischen Parlamentes sich einig sind. Mittlerweile sind dänische Referenden in EU-Angelegenheiten aber zur Regel geworden. Die vor allem in den 1990er Jahren teilweise langwierigen und harten, öffentlichen Auseinandersetzungen haben aber auch dazu geführt, dass die dänischen Stimmberechtigten heute über die EU viel besser Bescheid wissen als die Bürgerinnen und Bürger anderer EU-Mitgliedstaaten.
Themen der europäischen Volksentscheide
Zwanzig der 50 Volksabstimmungen in Europa über Europa betrafen die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Auch diesbezüglich waren Dänemark und Irland die Pioniere. Sie unterbreiteten die Frage des Beitritts einem Referendum. Die sechs Gründungsmitglieder der EU taten dies 1957 ohne ihre Völker nach deren Zustimmung zu fragen. Und nach dem Ende ihrer autoritären Regimes war in den 1980er Jahren auch für Spanien, Portugal und Griechenland der EU-Beitritt keine Frage, die sich der Volksabstimmung zu unterbreiten lohnte. Der Wille der ganz grossen Mehrheit dieser Völker war deutlich genug. Doch selbst das Vereinigte Königreich folgte 1975 dem Beispiel Irlands und Dänemarks und liess den EU-Beitritt durch die Mehrheit der Briten absegnen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges trat kein west-, nord-, süd- oder osteuropäischer Staat der EU mehr ohne Volksabstimmung bei. Nur im Norden gab es dazu übrigens negative Abstimmungsergebnisse. So lehnten die Norweger 1972 und 1994 den EU-Beitritt mehrheitlich ab. Grönland wiederum, als grösste Insel der Welt eine autonome Region Dänemarks, beschloss 1982 in einer Volksabstimmung nicht mehr zur EU gehören zu wollen und trat zehn Jahre nach dem Beitritt Dänemarks gleichsam aus der EU wieder aus. Mit den zu Finnland gehörenden schwedischsprachigen Alandinseln konnte eine weitere autonome Region 1994 ebenso wie Grönland eigenständig über die EU-Zugehörigkeit abstimmen; die Bewohner der mehr als 2000 kleinen Inseln zwischen Turku und Stockholm befürworteten diese aber im Unterschied zu den Grönländern.
Fünfzehn Volksabstimmungen betrafen die Erweiterung der Kompetenzen der EU in Form der Erneuerung der grundlegenden Staatsverträge. Besonders berühmt geworden sind in diesem Zusammenhang das erste dänische Nein zum Maastrichter-Vertrag 1992 und das erste irische Nein zum Vertrag von Nizza 2001. Beide Ablehnungen wurden zwar einige Monate später auf Grund von Nachverhandlungen und Ausnahmeregelungen zugunsten der beiden in neuen Volksabstimmungen national gleichsam korrigiert, doch beide Neins lösten jeweils besondere Bemühungen Brüssels um mehr Bürgernähe aus.
So meinte der damalige EU-Kommissions-Präsident Delors im September 1992, nachdem die Franzosen dem Maastrichter-Vertrag nur ganz knapp zugestimmt hatten, dass die EU ab sofort nicht mehr «nur Staaten, sondern auch deren Bürger und Bürgerinnen integrieren» müsse. Und das irische Nein führte im Winter 2001/2002 in Laeken bei Brüssel zur selbstkritischsten Erklärung, die je ein Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs abgegeben hatte, und hatte zu Folge, dass die erneute Weiterentwicklung der EU-Verträge durch einen Konvent ausgearbeitet und nicht mehr allein von den Staats- und Regierungschefs ausgehandelt wurde. Zudem klebte man dem gouvernemental geprägten Vertrag noch die bürgerorientiertere Etikette Verfassung auf – doch der auch sonst eher ungetüme, über 400 Seiten umfassende Verfassungs-Vertrag scheiterte im Juni 2005 an den Referenden der Niederlande und Frankreichs; Zustimmung fand er bei der Mehrheit der Spanier und Luxemburger. Nochmals umgetopft scheiterte die jetzt Reformvertrag genannte Vorlage aber wiederum im einzigen Staat, der ihn seinem Volk vorlegte, im Juni 2008 in Irland. Auch dies hat derzeit neu verhandelte Ausnahmen ausgelöst und wird voraussichtlich im Herbst dieses Jahres in Irland zur 51. Referendumsabstimmung über europäische Fragen führen.
12 Nein stehen 37 Ja gegenüber
Von den bisher 49 Volksabstimmungen über Fragen der europäischen Integration gingen nur zwölf, also weniger als Viertel, negativ aus. Neben den bereits erwähnten Ablehnungen des EU-Betritts in Norwegen, der EU-Vertiefungen in Dänemark und Irland sowie des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden, betraf dies vor allem die Verwerfung der Übernahme des Euros in Dänemark (2000) und Schweden (2003) sowie drei schweizerische Volksabstimmungen (EWR-Beitritt 1992 sowie zwei Volksinitiativen zu den Modalitäten eventueller EU-Beitrittsverhandlungen von 1997 und 2001).
Von den seit 1972 acht Volksabstimmungen über Fragen Europas sind folglich auch hierzulande nur drei gescheitert und fünf fanden die Zustimmung der Mehrheit der Stimmenden. Es waren dies der Freihandelsvertrag mit der EG 1972, die ersten Bilateralen Verträge im Jahre 2000, der Beitritt zu den Abkommen von Schengen und Dublin im Juni 2005, die Erweiterung der Personenfreizügigkeitsabkommen um die neuen osteuropäischen EU-Mitglieder im November 2005 sowie der Beitrag der Schweiz zum EU-Kohäsions-Fonds im November 2006. Dies deutet alles darauf hin, dass auch die 50.Volksabstimmng über Europa positiv für Europa ausfallen dürfte.
1 Die aufgearbeiteten Quellen finden sich im Sammelband: Pallinger/Kaufmann/Marxer/Schiller (Hrsg.), Direct Democracy in Europe, Developments and Prospects, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, April 2007
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