12. Okt. 2008
Korrespondenz
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Russland ist chaotisch, autoritär, mit oligarchischen Elementen, demokratischen Potenzialen, deren Entfaltung aber behindert wird
Sehr geehrter Herr Gross
Ich besuche zurzeit das Maturjahr an der Kantonsschule Bülach im Zürcher Unterland. Im Rahmen meiner Maturarbeit untersuche und vergleiche ich das Staatsverständnis der russischen mit demjenigen der schweizerischen Gesellschaft. Dabei leitet mich die Frage, Inwiefern unterscheidet sich das Staatsverständnis der russischen Bevölkerung der heutigen Zeit von demjenigen des Vergleichsstaates Schweiz? Woher rührt dies? Wie wirkt sich dies wohl auf die nähere Zukunft Russlands aus?
Für meine Arbeit möchte ich mich nicht nur bereits bestehende Literatur verwenden, sondern auch Aussagen von politischen und wirtschaftlichen Exponenten über die unmittelbare Situation in der Schweiz und Russland einfliessen lassen.
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Flavia Kleiner
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Sehr geehrte Frau Kleiner
Sie verlangen etwas viel und nimmt man Ihre Fragen ernst, könnte man ein Buch schreiben als Antwort. Zudem könnte ich den ganzen Tag Matura-Arbeiten schreiben helfen, so viele Anfragen bekomme ich.
Sie sollten mir also in etwa sagen, wie ausführlich meine Antworten sein sollten. Zweitens nimmt mich wunder, ob Sie die Texte auf meiner Webseite zu Russland gelesen haben und ob Sie Ihre Fragen nicht darauf spezifizieren, beziehungsweise nachfragen sollten/könnten. Und bis wann hat dies alles zu geschehen?
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Mit herzlichen grüssen und ebensolchem Dank
Andi Gross
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Sehr geehrter Herr Gross
Ich danke Ihnen für ihre rasche Antwort.
Die Beantwortung meiner Fragen könnte ich mir durchaus auch stichwortartig oder in kurzen Sätzen vorstellen. Falls Ihnen noch weitere Texte als diejenigen auf ihrer Homepage (habe ich gelesen) als Ergänzung einfallen würden, wäre ich um einen Verweis darauf sehr dankbar. Einzig die erste Frage zum Thema Wo befindet sich die russische Gesellschaft heute bedarf eventuell weiteren Ausführungen.
Ich bedanke mich noch einmal recht herzlich für Ihr Engagement, und nicht nur für dasjenige in meiner Arbeit, sondern auch für Ihre Leistungen im Europarat.
Freundliche Grüsse
Flavia Kleiner
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Sehr geehrte Frau Kleiner
Hier meine Antworten auf ihre manchmal etwas eigenartigen Fragen. Wenn Sie nachfragen möchten, dann bitte ich Sie, das zu tun.
Mit herzlichen Grüssen aus Toronto
Andi Gross
Durch die russische Revolution wurde „Das kommunistische Manifest“ von Karl Marx und Friedrich Engels zu einem der politischen Schlüsseltexte des 20. Jahrhunderts. Darin beschreiben die beiden Herren die Tatsache, dass eine Gesellschaftsordnung stets eine andere ablöst, bis schlussendlich die ideale, klassenlose Gesellschaft erreicht ist. Das ursprüngliche Ziel der Kommunisten in Russland war dann auch eine durch und durch menschliche Gesellschaft ohne Unfreiheit und Unterdrückung zu schaffen.
Das Kommunistische Manifest war im 19. Jahrhundert ein Schlüsseltext der Sozialisten und der Arbeiterbewegung. Die Russische Revolution hat daran nichts geändert; solche Texte dürfen nicht als Rezepte für das Handeln falsch verstanden werden. Ebenso sind solche Autoren nicht verantwortlich dafür, was andere mit Bezug auf sie und ihre Texte veranstalten. Beides ist genau auseinanderzuhalten.
Die Bolschewiki haben viele Texte für sich beansprucht; gefolgt sind sie aber bei ihrem Handeln ihren Interessen und Möglichkeiten; Texte sind eventuell Referenzen, haben aber mit der Realität meist wenig zu tun.
Welche Gesellschaftsordnung hat Russland heute?
Russland ist nicht mehr die Sowjetunion. Eine klare Differenzierung ist wichtig. Heute ist die Gesellschaftsordnung chaotisch, autoritär, mit oligarchischen Elementen, demokratischen Potenzialen, deren Entfaltung aber behindert wird.
Wo sehen Sie die russische Gesellschaft?
In einem schwierigen Transformationsprozess. Unter Stress.
Was wird angestrebt?
Das kommt darauf an, wen sie meinen. Es gibt alles.
Ist es der Bevölkerung Russlands bewusst, welche Instrumente durch den Staat eingesetzt werden, um dieses Ziel zu erreichen?
Der Staat ist eine abstrakte Kategorie; er macht gar nichts. Verschiedene Machthaber haben an verschiedenen Orten verschiedene Ziele. Sie müssten schon genauer fragen und sagen, wen sie meinen.
Wie beurteilen Sie Stimmen, die behaupten, der Stalinismus erlebe eine Renaissance in Russland?
Es gibt Menschen, die dies wollen; andere widersetzen sich dagegen, so wie wir dies auch tun würden.
Wo sehen Sie die markantesten Kontraste zwischen den Systemen beider Länder?
Das haben Sie wohl in der Diskussion in Rorbas gesehen. Ebenso gibt es dazu das Buch von Roman Berger und viele Hinweise auf meiner Homepage.
Wie wird das freie Unternehmertum gefördert in Russland? Ist es ein Ziel, dies zu fördern? Wenn ja, welches sind die Massnahmen zur Förderung des freien Unternehmertums?
Vielleicht waren und sind gewisse Unternehmer zu frei ... Daran liegt es aber nicht. Viel mehr an der Rechtstaatlichkeit, an unabhängigen Gerichten, am Rechtschutz, an der Gewaltenteilung, an der Meinungs- und Pressefreiheit – das alles braucht es, damit man von einer sozialen Marktwirtschaft reden kann und von einer Demokratie; an deren Mängel leiden in Russland viele Unternehmer und solche, die es werden wollen!
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