10.09.1999
Tages-Anzeiger Zürich
Seite 57
Kanalarbeiter

Gesucht: «Solidarische Einheit»

Sie sprachen wenig. Noch weniger als die Kollegen auf dem Platz. Mit vor der Brust verschränkten Armen sassen sie da. Die Lippen zusammengepresst, mit traurigem, melancholischem Blick, deprimiert. Fremdkörper in der Fremde: inmitten Tausender fröhlicher, ausgelassener Menschen, deren Sprache sie nicht verstanden und deren Hoffnungen sie nicht teilten.

Doch die beiden waren auch Fremde unter den Eigenen: Sie durften nicht nur nicht spielen auf dem Platz. Sie durften nicht einmal auf der Bank derjenigen Platz nehmen, die noch die Chance hatten, während des Spiels eingewechselt zu werden. Der Coach hatte sie von vornherein des Feldes verwiesen, auf die Tribüne verbannt. Da sassen sie, bitter, in sich versunken: Alexandre Comisetti und Stefan Wolf, Mitglieder der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft, auf der steilen Tribüne des wunderbaren Parken-Stadions zu Kopenhagen.

Kann man sich unter solchen Umständen überhaupt freuen auf den Match? Kann man sich identifizieren mit den Kollegen? Wie besetzt einen der nahe liegende Gedanke, dass je besser es den Glücklichen auf dem Rasen läuft, desto kleiner die eigenen Chancen werden, bald wieder (besser) spielen zu können? Wissen die beiden überhaupt, weshalb sie diesmal keine Chance bekamen?

Ich fragte sie. Sie hätten keine Ahnung, antworten die beiden, sie hätten es wenige Stunden zuvor erfahren, an der letzten Teamsitzung. Was geht in ihnen vor, wenn sie sehen, dass ihre direkte Konkurrenz beispielsweise alles andere als brilliert auf dem Rasen? Würde es ihnen überhaupt helfen, wenn sich der Coach ihnen zuvor erklärt hätte, wenn er ihnen auseinander gesetzt hätte, weshalb ihnen die anderen vorgezogen wurden? Wüssten sie dann, wo, wann und wie sie sich mehr anstrengen müssten das nächste Mal, um wieder spielen zu dürfen? Sie zuckten einfach die Achseln, schickten sich in ihre Hilflosigkeit.

Beim dänischen Führungstor zeigte Comisetti keine Regung, Wolf entglitt ein schiefes, dünnes Grinsen. Beim Ausgleichstor von Türkyilmaz schmunzelten beide, beim dänischen 2:1 schüttelten sie den Kopf. Von Leidenschaft war wenig zu spüren. Von Identifikation noch weniger, eher resignative Distanz.

In Lausanne gegen Weissrussland kamen beide wenigstens zu Teileinsätzen. Doch auch nach dem Sieg blieb Comisetti kühl. Fussballerischer Stoismus? Oder eher Gleichmut? Oder gar Indifferenz?

Gewiss, die Dänen hatten es gegen die Schweiz und Italien einfacher, ein Team zu sein. Doch ihre Spielfreude, ihr Engagement, ihr lustvoller Zusammenhalt war schon spürbar, als noch keine Überraschungen gewiss waren. Als Beleg reichte es, den dänischen Torhüter Schmeichel zu beobachten. Er gilt nicht nur als einer der Besten der Welt und ist dänischer Rekordnationalspieler, vor allem aber ist er einer der grössten Motivatoren, Inspiratoren und Anpeitscher aller Fussballwelten.

Wer eine derart engagierte und kompetente Kraftquelle vor sich agieren sieht, der kann gar nicht anders, als sich anstecken lassen: Entsprechend war es am Samstagabend im Kopenhagener Parken während 85 der 90 Minuten so laut wie in Lausanne höchstens nach den beiden Schweizer Toren, es war selbst bei den offensichtlichsten dänischen Durchhängern nichts Despektierliches zu vernehmen, eher trugen die Zuschauer ihre Spieler über die Schwächen, als dass sie sie auspfiffen wie hier zu Lande.

Andy Egli war einer der wenigen, die sofort die emotionale Kälte ansprachen im Schweizer Team, das gar kein Team mehr schien. Und Egli rief nach der ominösen «solidarischen Einheit» - der grossen konkreten Utopie jeder Gruppe, die mehr sein will als die Summe aller Teile und die so viele täglich fast immer vermissen. Ich arbeite im Bundeshaus auch in einer Branche, in der mir die Konkurrenz manchmal brutaler zu sein scheint als auf dem Weltmarkt, der Zusammenhalt schwächer als der dünnste Faden. Und wie man hört, ist es anderswo, in Unternehmensleitungen, Redaktionen, anderen Parteien auch nicht viel besser.

Der Fussball also bloss wieder als ein Spiegel unser selbst? Möglich. Doch der Spiegel ist nicht schuld an dem, was er zeigt. Vielmehr können wir uns fragen, was wir tun könnten, dass Andy Eglis Utopie keine Illusion wird. Nicht für die Fussballnati, aber auch nicht ausserhalb des Spielfeldes.

Andreas Gross

 

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