6. Nov. 2008

WoZ, Wochenzeitung
Zürich






Leserbrief zu diesem Artikel und die Antwort

Die NZL zu diesem Artikel

«Wenn keiner widersprechen kann,
lernen alle nichts!»


Ein Gespräch mit WOZ-Redaktor Daniel Ryser

WOZ: Sie kommen gerade vom Europarat. Wir stimmen im Februar über die Personenfreizügigkeit ab. Braucht der europäische Weg die EU eigent­lich noch?


Andreas Gross: Die EU ist eine der grössten politischen Errungenschaf­ten der Moderne. Sie muss nicht in Frage gestellt, sondern reformiert, das heisst demokratisiert und föderalisiert werden. Die Vorstellungen des vereinten Europas entstanden 1941-1944 in den Gefängnissen der Faschisten. In all diesen Projekten ging es um einen föderalistischen europäischen Bundesstaat auf einer klaren Verfassungsgrundlage. Der Kalte Krieg hat die Nationalstaatlichkeit regeneriert, in einer Art, wie es sich jene, die unter dem Krieg gelitten hatten, nie hätten vorstellen können. Sie dachten, der 2.Weltkrieg diskreditiere die Nationalstaat­lich­keit auf ewig. Bei einem Teil der Elite war das so, unter vielen Völkern leider nicht.

Die Europabewegung ist eine elitäre Bewegung geblieben.

Das kann man so sagen. Der Kalte Krieg hat das ursprüngliche Projekt verhindert, deshalb gab es statt einer Verfassung einen Vertrag. Statt politisch mit den Bürgerinnen und Bürgern voranzugehen, schickte man die Wirtschaft voran. Die Distanz zwischen Bürgern und europäischer Integration ist das grosse Defizit dieses Projekts, der Preis, der heute dafür eingefordert wird. Es ist eine böse Tradition, dass die Europa­bewegung eher eine elitäre ist. In der Schweiz ist das bis heute leider auch nicht anders .

Macht unter diesen Voraussetzungen ein EU-Beitritt überhaupt Sinn?

Ja. Denn die Veränderungsnotwendigkeit der EU stellt nicht in Frage, dass sie sehr weitgehend auch die Lebensqualität der Schweiz und in der Schweiz beeinflusst. Wenn wir es ernst nehmen mit der Freiheit, dann gibt es keine Alternative zur EU-Mitgliedschaft. Wir sollten beitreten, aber die EU muss auch reformiert und demokratisiert werden. Das ist unsere grosse politische Herausforderung: Ja zur EU, gleichzeitig aber Engage­ment für eine bessere EU. Meine Lehre aus der Debatte um eine Schweiz ohne Armee war, dass der Frieden ein transnationales Projekt ist, das aber demokratische Rechte erfordert, die bisher nur national existieren.

Die EU – die grosse Gerechte?

Sie können die EU etwa in Bezug auf die Verhinderung von Kriegen nach 1950 und nach 1990 nicht überschätzen. Und dass jeder Staat, der einst zum Einflussbereich der Sowjetunion oder zu ihr selber gehörte, heute möglichst schnell in die EU will, zeigt, wie attraktiv sie für diese Länder ist. In erster Linie aus ökonomischen, aber auch aus sicherheits­po­li­ti­schen und gesellschaftspolitischen Gründen.

Aber nicht wegen noblen Grundsätzen: Etwa Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie.

Vordergründig gewiss nicht. Aber in und mit der EU werden diese Nationen lernen, dass das EU-Projekt nicht auf Wohlstand und Wachstum reduziert werden kann, sondern dass es ohne Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie keinen nachhaltigen Wohlstand geben wird. Ohne die EU hätte es Gewaltausbrüche wie jene im Balkan in vielen anderen Ländern auch geben können. Der Nationalismus hat in vielen Ländern den Kommunismus ersetzt. Die EU hat ihn domestiziert. In der Slowakei, in Polen, in Ungarn, in Rumänien, Mazedonien. Inwiefern uns dies auch in der Ukraine und im Kaukasus gelingt, wird sich noch weisen müssen.

In der Schweiz ist die EU vor allem eins: Unpopulär.

Die Schweiz hat drei europäische Kriege alleine überlebt, den ersten 1870 und 1871. Diese Erfahrung schafft eine Mentalität, die länger hält als die Realität, die diese Mentalität geboren hat. Faktisch hat die Schweiz ja den 2. Weltkrieg aber nicht allein überlebt, sondern, wie Dürrenmatt unübertrefflich formulierte, weil sie «grausam klug» kollaboriert hat mit allen möglichen. Dass man heute Sicherheit nur in Kooperation findet, hat die Schweiz antizipiert, bloss in einer moralisch höchst fragwürdigen Art – und sie hat sich dies bis heute nie richtig eingestanden.

Das müssen Sie erklären.

Wir müssen lernen, uns einzugestehen, dass die Schweiz den zweiten Weltkrieg zwar territorial unversehrt, moralisch aber versehrt überlebt hat. Dürrenmatt sagte schon früh, dass ein Kleinstaat, umgeben von einer aggressiven Grossmacht, nicht moralisch intakt bleiben kann. Er meinte sogar, wenn man Hunderttausenden von Menschen das Leben retten kann, dürfe man dies sogar auf unmoralische Art und Weise tun. Nur müsse man dies nachher auch zugeben. Das hat die Schweiz nach dem 2.Weltkrieg nie getan. Deswegen hatte sie immer ein schlechtes Gewissen, das sie hinter der Armee versteckte, und konnte jahrzehntelang nicht frei über die Europäische Integration nachdenken – die Lehre, welche die anderen aus ihrem eigenen Versagen zogen. Andere europäische Länder haben nicht drei grosse Kriege allein überlebt, sie haben das Wesentliche verloren und gelernt, dass man es nur in Zusammenarbeit bewahren kann. Deswegen bauten sie die europäische Integration auf. Diese erinnerte die Schweiz immer ans eigene schlechte Gewissen. Die Schweiz begann darüber erst in den Neunziger Jahren zu diskutieren. Niklaus Meienberg ist ein Symbol für diese Aufarbeitung: Er hat bereits sehr früh versucht, diese Diskussion anzustossen. Seine grosse Tragik: Kurz bevor es ihm gelungen wäre, verzweifelte er daran und brachte sich um. Meienberg ist ein typisches Beispiel dafür, wie die Schweiz mit ihren genialen Talenten nicht umzugehen weiss.

Über Christoph Blocher heisst es das auch.

Ach ja? Das habe ich so nie vernommen; der Vergleich scheint mir fast obszön. Ich habe lange nicht verstanden, warum Christoph Blocher in derart unschweizerischer Selbstüberhöhung so lange in der Politik so erfolgreich sein konnte. Jetzt hat er innert neun Monaten dreimal die Quittung bekommen für seine unschweizerische Unbescheidenheit. Zum ersten Mal in dreissig Jahren haben nun sogar die eigenen Leute Blocher widersprochen. Und plötzlich ist Blocher alles andere, nur nicht mehr cool.

Unschweizerisch. Das klingt in meinen Ohren gar nicht schlecht.

Ich habe das Wort unschweizerisch selbst nicht gern, und verwende es hier dennoch. Und zwar rein analytisch, nicht moralisch. Blocher wollte ein bürgerliches Regierungssystem unter der Hegemonie der SVP aufbauen. Er wollte die SP aus dem Bundesrat werfen, die Konkordanz abschaffen, die CVP und die FDP zu Seitenwagen einer 40-%-SVP reduzieren. Sein politisches Vorbild war Franz-Josef Strauss, die alte CSU mit 60 bis 70 Prozent.

SVP-Präsident Toni Brunner sagt: Bei der Bundesratswahl wird nicht gewählt, es wird befohlen. Haben Sie Verständnis für diese Forderung?

Nein. Brunner argumentiert autoritär wie sein Chef. Wer sich persönlich auf welche Art eignet für die Konkordanz-Regierung, das zu bestimmen liegt in der Freiheit des Parlaments. Die Konkordanz erlaubt programmatischen Dissens, braucht aber einen Grundkonsens im Bereich Völkerrecht, Menschenrechtskonvention, Bundesverfassung, Gewaltenteilung, Rechtsstaat – inwieweit dazu auch ein minimaler sozialer Gemeinsinn und die Einsicht in die Notwendigkeit der Nachhaltigkeit gehört, sollten wir endlich auch diskutieren. Jede Vorlage kann und muss auf dieser Grundlage ihre Mehrheiten finden in beiden Räten sowie immer wieder bei den BürgerInnen und den Kantonen . Das ist die Logik der direkten Demokratie. Die Konkordanz erlaubt sogar in der Regierung eine programmatische Vielfalt. Aber es muss eine Grundwerteeinigkeit herrschen. Die war seit 1995 nicht mehr vorhanden, seit Adolf Ogi mit seiner Sicherheitspolitik in der SVP keine Mehrheit mehr hatte. Damit war ein Grundprinzip der Konkordanz in Frage gestellt. Denkfaulerweise wurde seit 2002 bis heute die Konkordanz auf eine mathematische Rechnungsformel reduziert.

Was wäre wirkliche Konkordanz?

Zu begreifen, dass Konkordanz eine fundamentale Gemeinsamkeit benötigt; auf dieser Gemeinsamkeit aber programmatische Vielfalt ermöglicht. Das Entscheidende dabei ist, dass Parteien und Menschen zusammenarbeiten, die davon ausgehen, dass die Differenz, der Streit, etwas Wesentliches ist, und dass in jedem Streit der Andere auch etwas zur Wahrheitsfindung beitragen kann. Das ermöglicht uns allen zu lernen. Es gilt, das andere Denken des Gegenübers zu respektieren. Blocher hat die Andersdenkenden aber bloss beleidigt und erniedrigt. Das ist letztlich der Grund seines Scheiterns.

Konkordanz heisst also auch: freiwillig Macht teilen.

Genau. Insofern ist sie auch eine Konsequenz der historischen Kon­sti­tution der Schweiz. Die Schweiz ist ein Land, das aus vielen Teilen besteht, die erst noch übers Kreuz überlappen. Es ist unmöglich, dass ein Teil meint, alle anderen dominieren zu können. Hier liegt eben der Kern des Unschweizerischen des Herrn B. Nicht bloss religiös, sprach­lich, Stadt, Land, arbeitsweltlich; jeder von uns gehört irgendwie zu einer Minderheit. Deswegen achten und schützen wir die Minderheiten derart, zumindest unsere traditionellen. Deshalb bekennen sich heute auch fast alle zur Konkordanz, aber kaum einer sagt, was er damit eigentlich genau meint. Das gilt auch für die SP. Und bei der SVP ist ein Bekenntnis der Emanzipierten nötig.

Dass etwa die Menschenrechtskonvention geachtet wird.

Und das Bundesgericht. Auch Bundesrätin Widmer-Schlumpf, die wir in Sachen Asylrecht vehement bekämpfen, akzeptiert die Menschenrechts­kon­vention, wie sie von Strassburg ausgelegt wird, als Massstab der eigenen Politik. Das hat Blocher nicht getan. Er hat die fremden Richter und auch die eigenen in Lausanne schlecht gemacht. Damit hat er die Notwendigkeit, dass ein Gericht die parlamentarische Mehrheit oder die Regierungsmehrheit auch brechen können muss, in Frage gestellt. Dabei ist diese Spannung zwischen den Gewalten notwendig. Jede Gewalt ist auf die andere angewiesen, um sich selbst zu disziplinieren und zu zivilisieren. Das ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen einer Demokratie und einer Diktatur. Und in diesem Zusammenhang fehlt dem Bund auch das Verfassungsgericht – gerade weil wir nicht nur dasjenige von Strassburg haben wollen.

Die Verunglimpfung von Richtern, Intellektuellen, das hatte System?

Es ist die Verunglimpfung aller, die nicht auf der diktierten Spur sind. Auch der eigenen Leute, die etwas anders spuren. Die neue SVP-Mehrheit, die Blocher die Bundesratsgarantie verweigerte, muss sich diesbezüglich aber weiter outen. Das wäre die Voraussetzung für die Rückkehr der SVP in den Bundesrat. Deswegen ist eine Annäherung an einen gemeinsamen Konkordanzbegriff derart wichtig, denn er ist das Kriterium für die Beurteilung von Menschen und Parteien, die Teil der Regierung sein wollen.

Wer sich dem verwehrt, der hat im Bundeshaus nichts zu suchen?

Nein, im Parlament dürfen und müssen sie alle sitzen. Die Bundesversammlung muss alle repräsentieren. Die Regierung muss freilich mehr sein als bloss ein Abbild des Parlaments. Ich war nie einverstanden damit, dass die Franzosen fünfzehn Prozent Front-National-Wählende einfach ausschliessen. Das System dort ist so konzipiert, dass auch eine 15-Prozent-Partei im Parlament einfach nicht vertreten ist. Wenn sie diese Rechtsextremen, Faschisten sogar, ausgrenzen, dann werden die im Stillen stärker. Im Parlament muss alles vertreten sein. Es ist der erste Feuermelder, die direkte Demokratie der zweite. Sie ist die grosse Oppositionserrungenschaft der Schweiz. Wir haben sie gegen Alfred Escher erkämpft, der wie Blocher zu viel Macht alleine wollte und nicht zufälligerweise in den letzten Jahren wieder gefeiert wird.

Würde eine Volkswahl des Bundesrates die Demokratie eigentlich demokratischer machen?

Keinesfalls. Denn die Demokratie ist mehr als ein Zählrahmen, wie ein zu früh verstorbener Freund einmal sagte. Sie braucht reale peoples power, aber auch ein starkes Parlament. Wenn der Bundesrat die gleiche Legitimität wie das Parlament hätte, würde dies das Parlament massiv schwächen. Das Parlament ist heute bei uns verfassungsrechtlich stark. Aber weil es ein Milizparlament sein soll, stärkt das wiederum den Bundesrat enorm, denn er hat alle Profis auf seiner Seite. Wenn der Bundesrat jetzt auch noch die gleiche Legitimation hätte, gäbe es eine plebiszitäre Gefahr. Dann würde das Parlament negiert. Die starken Männer und Frauen wären versucht plebiszitär am Parlament vorbei zu regieren. Doch ein starkes Volk braucht auch ein starkes Parlament, viel eher als eine zu starke Regierung! Jede Vorlage kommt aus dem Parlament. Wenn das Parlament nicht gut arbeitet, kann das Volk auch nicht gut entscheiden. Der Bundesrat ist ja heute schon freier als jede andere Regierung. Er kann den Rücktrittszeitpunkt frei bestimmen, was einzigartig auf der Welt ist. Er hat die verfassungsrechtlich optimalen Voraussetzungen, um gut zu regieren, er braucht nicht noch mehr Macht.

Die Forderung kommt ja nicht bloss von der SVP. Micheline Calmy-Rey unterstützt sie auch.

Das hat mich auch entsetzt. Glücklicherweise haben Moritz Leuenberger und Christian Levrat sofort widersprochen. Dass Micheline aber einen solchen Aussetzer produzieren konnte, ist auch Ausdruck der Ober­fläch­lichkeit der herrschenden Diskussion über fundamentale Fragen der schweizerischen Demokratie. Der Waadtländer Staatsrat Pierre-Yves Maillard hat wenige Tage zuvor dasselbe auch gefordert. Aber Maillard hat ja vor etwa sechs Jahren auch mal gesagt, dass er ein «Blocher der Linken» werden will. Jemand, der solches sagt, ist der autoritären Versuchung erlegen und scheint nicht zu begreifen, was links ist und auch nicht, was Blocher war. In dem Moment, in dem sich Charles De Gaulle direkt wählen liess, wurde das französische Parlament das schwächste Europas. Ein Schweizer Bürger hat heute mehr echte Gestaltungsmacht als ein französischer Parlamentarier. Dieser ist vor allem ein Mehrheitsbeschaffer ohne grosse eigene Gestaltungs­mög­lich­keiten. Eine Schweizer Bürgerin hat enorme Handlungsmöglichkeiten, weil sie zusammen mit anderen jederzeit jede Frage der ganzen Nation zur Diskussion aufdrängen kann. Keine Regierung kann sie daran hindern und auch das Parlament kann die Frage weniger an alle Bürgerinnen und Bürger nicht unterbinden.

Was halten Sie eigentlich vom neuen SP-Armeepapier?

Es ist zum Teil sehr kompliziert und langatmig geschrieben, aber im Wesentlichen ist es ein Ausdruck davon, dass die SP auf der Höhe der Zeit ist: Abschaffung der Wehrpflicht und diejenigen, die freiwillig Sol­da­ten sein wollen, werden zusammen mit anderen Soldaten aus anderen Demokratien eingesetzt. Wir alle sollten endlich merken, was die anderen Länder Europas bereits nach dem 2. Weltkrieg gemerkt haben: Das, was uns am wichtigsten ist, Freiheit, Demo­kra­tie, Gerech­tig­keit, Rechtssicherheit, existentielle Grundsicherheit, können wir heute nur als aktiver Teil eines grösseren Ganzen erarbeiten und schützen. Es gibt nichts Inter- und Transnationaleres als Frieden. Das lernten wir in der Gruppe Schweiz ohne Armee, der GSoA, schon in den Achtzigern. Die SP lernte es in den Neunzigern. Die Mehrheit der Schweizer hat es immer noch nicht gelernt. Deswegen führen wir derartig archaische und anachronistische Debatten im Schweizer Parlament, welche die Uneinigkeit der Schweizer Gesellschaft spiegeln. Wir sollten aber eine grössere Einigkeit schaffen.

Jetzt holen Sie die GSoA zur Hilfe. Aber die GSoA (ist gegen Auslandeinsätze und) wird nach Abdruck dieses Interviews wohl umgehend eine Gegendarstellung fordern.

Ich sprach von der GSoA der 1980er Jahre, zu deren Mitbegründer ich gehöre. Die GSoA von heute ignoriert meiner Meinung nach, dass es in der Weltentwicklung grosse Ungleichzeitigkeiten gibt, ein Begriff von Ernst Bloch. Dort, wo es nie eine politische Freiheit gab, wie auf dem Balkan, in Russland, im Kaukasus, dort, wo nach dem 2. Weltkrieg die Freiheit des Andersdenkenden fünfzig Jahre unterdrückt wurde, wurde auch ein Lernprozess blockiert. Es gab dort keine zivilisatorischen Fortschritte in Bezug auf die Emanzipation von der Gewalt als vermeintlichen Konfliktregelungsmechanismus. Im ehemaligen Jugoslawien durfte man zwar das Land verlassen, um etwa in der Schweiz zu arbeiten, aber man durfte Tito nicht widersprechen. Sonst kam man ins Gefängnis. Wenn keiner widersprechen kann, lernen alle nichts. Das ist das Schicksal totalitärer Herrschaft. Die kroatische und die serbische Bevölkerung haben deswegen nicht gelernt, dass eine unterschiedliche Religionszugehörigkeit kein Grund ist, nicht zusammenzuarbeiten. Dass ein Konflikt nichts zu tun hat mit Gewalt, im Gegenteil: Konflikte sind notwendig, Gewalt ist tödlich. Wir beide sitzen hier, und uns interessiert doch schon gar nicht mehr, welche Religion der andere hat. Dies ist eine grosse Errungenschaft. Diese Ungleichzeitigkeit in der Welt hat aber zur Folge, dass es nach wie vor Orte auf der Welt gibt, wo Menschen meinen, sie könnten mit Gewalt einen Konflikt austragen. Diesen muss man so entgegentreten, dass sie im Interesse der Schwachen darauf verzichten.

Und deswegen, glaubt die SP, seien bewaffnete Auslandeinsätze unabdingbar.

Es braucht Leute, die das Metier der Gewalt beherrschen und denen, die Gewalt anwenden wollen, zeigen, dass sie keine Chance haben, wenn sie diesen Weg gehen wollen. Das ist die Logik der Friedenseinsätze. Dass jener, der solche Einsätze veranlasst, der UNO-Sicherheitsrat, in sich selbst ein Problem ist, dass dort zwei Staaten dabei sind, die nichts wissen wollen von Menschenrechten und Demokratie, ist kein Argument gegen Friedenseinsätze, sondern ein Argument dafür, endlich die UNO zu reformieren. Dazu mache ich derzeit im Europarat einen grossen Bericht. Tatsächlich ist der Sicherheitsrat etwas vom undemo­kra­tisch­sten, das es gibt. Er repräsentiert die Welt in keiner Weise, auch nicht die demokratische Welt, die das Recht des Starken durch die Stärke des Rechtes ersetzen will. Weil er aber völkerrechtlich die höchste Macht ist, sind viele Elemente der Kritik berechtigt. Es ist daher naiv zu sagen, wie dies die SP tut, man mache nur Friedenseinsätze unter UNO-Mandat.

Wie bitte?

Es ist unzeitgemäss. Das heisst nicht, dass ich für mehr Militär­in­ter­ven­tionen wäre; weniger wären besser, aber dafür richtigere. Es heisst vor allem, dass ich für eine Reform der UNO bin. Im Sinne des schönen Satzes des slowenischen Präsidenten Danilo Türk: «Die Welt hatte die UNO noch nie so nötig wie heute; in der UNO waren Reformen noch nie so nötig wie heute!»

Sie wollen Auslandeinsätze ohne UNO-Mandat?

Vorläufig muss man meiner Meinung nach als Kosmopolit eingestehen, dass dies unter Umständen zur Rettung von Millio­nen von Menschen­le­ben möglicherweise nicht zu vermeiden ist. Weil eben die Organisation der UNO nicht auf der Höhe unserer Zeit ist. In Ruanda zog die UNO zu früh ab, in Darfur kam sie zu spät, China verhinderte viel zu lange einen angemessenen Einsatz. Solange die UNO eine derart unvollendete innere Entscheidungsstruktur hat, sollte das Schweizer Parlament selbst ent­scheiden können, was mit Schweizer Soldaten passiert. 25 Länder, da­von 20 EU-Staaten, mit denen die Schweiz oft zusammenarbeitet, wol­len dem UNO-Generalsekretär ein ständiges Friedenssoldatenkontingent zur Verfügung stellen. Warum soll die Schweiz da nicht dabei sein?

Warum sollte sie dabei sein?

Weil das Schicksal der Welt auch das unsere ist. Weil wir nicht frei sein können, wenn anderswo Menschen getötet werden. Weil wir es nicht gleichzeitig gut haben können auf dieser Welt und uns von ihr verab­schie­den. Die SP weiss das, aber sie spricht es nicht aus, weil sie sich wahr­scheinlich eine schwierige Diskussion noch nicht zutraut. Ich bin der Meinung, dass weltbezüglich die jetzige Position nicht ausreicht. Bis sich China und Russland irgendwann auch einverstanden erklärt haben, ist ein Einsatz meistens gar nicht mehr nötig. Andererseits haben die USA und Grossbritannien allein auch unermesslichen Schaden ange­rich­tet, beispielsweise in Irak und zu Lasten der Palästinenser.

Machtstrategische, imperiale Interessen verhindern menschenrechtlich gebotenes, weltbezügliches Engagement. Europa, die Schweiz, müssten für sich auch beurteilen, ob sie trotz des Vetos eines der Sicherheits­rat­mit­glie­der Friedenseinsätze unternehmen wollen. Ich bin überzeugt, dass wir im Irak nein sagen würden, aber in Darfur ja. Da hätte man schon lange ja sagen müssen. Wegschauen gilt nicht. Nur selektives Hinschauen auch nicht. Trotz aller gebotenen Bescheidenheit.

Also auf nach Afghanistan?

Nein, Afghanistan entwickelt sich zu einem Debakel. Wir sind uns wohl der Tragweite nicht bewusst. Und obwohl ich weiss, wie die Deutschen argumentieren, dass etwa Mädchen dank ihnen wieder eine Schule besuchen können, kann man es so nicht machen. In dieser Beziehung scheint mir Helmut Schmidts Analyse richtig, wenn ich auch seine Europazentriertheit nicht teile. Wir müssen zwar Deutschland, Frankreich, Schweden, Dänemark, Finnland, Italien und Norwegen zugestehen, dass sie in Afghanistan ein Teil der Problemlösung sein wollen und nicht ein Teil des Problems. Das Problem sind die Taliban. Sie unterdrücken rücksichtslos Menschen und hindern sie an ihrer Entfaltung. Doch wenn selbst der höchste US-General mit den Taliban Verhandlungen aufnehmen möchte, sollten wir dort nicht nach Alternativen zum Militäreinsatz suchen? Die offizielle US-Politik war bisher ebenfalls Teil des Problems. Und wie unter der Verantwortung der USA-Militärs im Irak, in Afghanistan und neuerdings auch in Pakistan die Zivilbevölkerung behandelt wird, ist eine totale Delegitimation ihrer und unserer eigenen humanitären Wertegrundlagen. Genau dies ist Öl fürs Feuer des Islamismus.

Riskiert die Schweiz nicht, Teil dieser Delegitimation zu werden?

Gewiss. Sogar im europäisch kleineren Mass, wenn wir ans Bankgeheimnis und die Steuerpolitik und den diese umgebenden offiziellen Diskurs denken. Wir dürfen die Drecksarbeit nicht anderen überlassen. Und den Dreck weder unter den Teppich kehren noch uns gar an ihm bereichern. Das wird in der Welt als unglaublicher, typisch schweizerischer Egoismus empfunden. Wir sind die fünfzehnt grösste Wirtschaftsmacht der Welt. Wir dürfen nicht länger davon ausgehen, dass wir nicht mitverantwortlich sind für das, was auf der Welt an Unmenschlichkeiten passiert. Wie der St. Galler Historiker Hans Fässler aufgezeigt hat, haben wir sogar bei der Sklaverei mitgemacht und mitprofitiert. Kaum eine Sauerei auf dieser Welt, bei der wir auf der profitablen Seite nicht dabei waren. Deren Überwindung überlassen wir dann gerne den Anderen. Ich denke auch, dass Kleinstaaten besondere Chancen bieten. Wir sollten uns freilich viel mehr um deren Welt- und Menschenverträglichkeit bemühen.

Machen wir so nicht alles noch schlimmer?

Wir können gerne darüber streiten, wie ursächlich wir mitverantwortlich sind am weltweiten Schlamassel, eine Einigung wird schwierig werden. Aber ich denke, dass es eine Einigkeit darüber geben kann, dass die Folgen des Schlamassels auch uns betreffen. Und dass wir diesen Schlamassel überwinden, liegt doch in unserem Interesse. Dass wir den schwierigen Teil dieser Arbeit nicht bloss anderen überlassen, finde ich selbstverständlich.

Was hiesse das konkret? Schweizer Soldaten in Südossetien?

Als Polizisten – warum nicht? Schweizer Soldaten wären doch gute Polizisten! Und sie wären überall willkommen. In Georgien bestimmt, das ist mir vergangene Woche wieder bestätigt worden, gerade auch, weil die EU-Mission keine Polizeifunktion ausübt. Als Polizist hat man zudem die Waffe bloss, um andere vom Schiessen abzuhalten. Europa hat drei­hun­dert Beobachter nach Südossetien geschickt. Warum ist die Schweiz nicht dabei? Ein solch sinnvoller Einsatz für die krisengeschüttelte Armee würde doch sogar im Volk eine Mehrheit finden - weil er echte Krisen bewältigen hilft.

Andreas Gross, geboren 1952, ist Zürcher SP-Nationalrat, Fraktionspräsident der Sozialdemokraten im Europarat und war 2000 - 2005 Mitglied des Zürcher Verfassungsrats. 1981 war er Mitbegründer der Gruppe Schweiz ohne Armee. 1997 war er einer der beiden Väter der Volksinitiative zum UNO-Beitritt der Schweiz. Andi Gross hat in Zürich Ge­schich­te und in Lausanne Politikwissenschaften studiert, übt seit 1992 verschiedene Lehraufträge aus und leitet seit fast 20 Jahren das Atelier für Direkte Demokratie in St-Ursanne. Dort ist auch der Sitz des Verlages Editions le Doubs, in dem er in den letzten Jahren verschiedene Bücher zu Themen herausgab, die in diesem Gespräch angesprochen wurden.


Kontakt mit Andreas Gross



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