1. Okt. 2008

Agenturen

Konflikte gehören zur Freiheit
sie dürfen aber nicht gewaltsam eskalieren


Mehrere Delegierte des Europarats haben sich heute kritisch zum Verhalten Russlands geäussert. Abgeordnete aus mehreren west­europäischen Ländern rügten laut Agenturberichten die russische Militärintervention als unverhältnismässig und forderten eine unabhängige internationale Untersuchung. Sie verlangten, dass die schwerwiegenden Verletzungen der Menschenrechte und der Souveränität Folgen für die Konfliktparteien haben müssten. Allerdings müsse zuvor zweifelsfrei geklärt werden, wer für den Ausbruch der Kriegshandlungen verant­wortlich sei. Auch Georgien habe übermässige Gewalt eingesetzt.

Haben auch Sie heute Stellung im Europarat bezogen?

Andreas Gross: Selbstverständlich; ich war auf einer Rednerliste mit über 119 Namen, die bis am Donnerstagabend abgearbeitet werden wird, der zweite Sprecher, als Fraktionspräsident der Sozialdemokraten in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Ich habe betont, dass der Europarat vor 60 Jahren gegründet worden war, um Kriege wie diesen im Kaukasus unmöglich zu machen. Ihn nicht verhindert zu haben sei deswegen auch ein grosser Mangel und eine Fehlleistung des Europa­rates, aus der er zu lernen habe. Konflikte würden zur Freiheit gehören wie das Amen in die Kirche. Inner- und zwischenstaatlich ist es aber ein Zeichen der Qualität der Demokratie und der zwischenstaat­lichen, völkerrechtlichen und anderen menschenrechtlichen Vereinbarungen, dass Konflikte nicht gewaltsam eskalieren und erst recht nicht zum Krieg. Dies hier nicht verhindert zu haben ist besonders schlimm, weil der Konfliktinhalt ist ein Erbe Stalins aus den 1920er Jahren und mindestens nach dem Ende der Sowjetunion hätte er befriedigend angegangen werden können.

Teilen sie die Ansicht, dass Russland unverhältnismässig und völkerrechtswidrig vorgegangen ist? Welche Schuld trägt Georgien am Konflikt?

Ich war und bin der Rapporteur für die Frage, ob der russischen Delegation das Recht zur Anwesenheit entzogen werden soll, welche morgen Abend entschieden werden wird. In diesem Bericht führe ich aus, dass beide Seiten mehrfach Völkerrecht und Verpflichtungen als Europaratsmitglied verletzt haben. Auch gab es monatelang verschiedene gegenseitige Provokationen und Scharmützel, welche die Konfliktlage immer weiter eskaliert haben. Doch am Abend des 7. August war es eindeutig Georgien, welche die Hauptstadt Südossetiens, Tskinvalli, mithin eigenes Territorium und offiziell georgische Staatsbürger schwer bombardiert hat, während der ganzen Nacht und 60 russische Friedenssoldaten und mehrere Hundert unschuldige Zivilisten getötet hat. Dies ist ebenso rechtswidrig wie inakzeptabel, wie die völlig überrissene Reaktion der russischen Armee, deren Flieger ebenso unschuldige Zivilisten bombardierte und tötete und bis weit in georgisches Kernland einmarschierte und es bis heute besetzt. Die Verantwortung ist beidseitig, die Schuld ebenso, doch die entscheidende Eskalation beging in einer verheerenden Fehleinschätzung der georgische Präsident. Damit hat er wohl für Jahrzehnte, wenn nicht für immer, Abchasien und Südossetien für Georgien verloren.

Welche Haltung nimmt der Europarat nun gegenüber Russland ein. Was sind die nächsten Schritte?

Ausschlüsse helfen niemanden. Deshalb verzichtet der Europarat morgen mit aller Wahrscheinlichkeit sowohl auf Sanktionen gegenüber Georgien als auch gegenüber Russland. Wir werden freilich einen Massnahmen­plan kurz-, mittel- und langfristiger Art entwickeln, der sowohl den unmittelbar notleitenden Menschen über den Winter hilft wie langfristig versucht herauszufinden, wie eine solche Eskalation von ähnlichen Konflikten in der Region verhindert werden kann. Eine Untersuchungs­kom­mis­sion, wie eine spezielle Friedenskonferenz ebenso wie spezielle Überwachungsmassnahmen dürften von der Parlamentarischen Versammlung am Donnerstag im Anschluss an die Diskussion beschlossen werden. Ebenso gilt es, die Krim besonders zu schützen und imperiale Gelüste Russlands zu verhindern. Dies können wir nur in offenen, harten und kritischen Auseinandersetzungen, nicht durch die Isolation Russlands. Wir können nur mit Russland Frieden finden, nicht gegen oder gar ohne es!


(Nachstehende Meldung basiert auf obigem Gespräch)



Georgien:
Russland lässt EU-Beobachter
vorerst nicht in Pufferzone


Moskau (sda/afp/reuters/dpa) Das russische Militär will die EU-Beobachter, die ab Mittwoch den Waffenstillstand in Georgien überwachen sollen, vorerst nicht in die Pufferzone um die abtrünnige Region Südossetien lassenDie EU-Experten müssten bis auf weiteres ausserhalb der Sicherheitszone bleiben, sagte ein russischer Militär­sprecher. Die technischen Details des Einsatzes seien noch nicht ausgehandelt worden.

Der Aussenbeauftragte der Europäischen Union, Javier Solana, äusserte sich dennoch zuversichtlich, dass Russland bis zum 10. Oktober aus den Sicherheitszonen in Georgien abzieht. «Ich bin optimistisch, dass alle Parteien dem unterzeichneten Abkommen nachkommen», sagte Solana, der am Dienstag in der georgischen Hauptstadt Tiflis zu Gesprächen mit Präsident Michail Saakaschwili eingetroffen war.

Die EU hat bislang etwa 225 Experten nach Georgien geschickt, die ab Mittwoch den Waffenstillstand und den russischen Truppenabzug aus zwei um die abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien verlaufenden Sicherheitszonen überwachen sollen. Die Entsendung der Beobachter wurde in dem von der EU vorgelegten Friedensplan mit Russland vereinbart.

Scharfe Kritik an Russland

Im Europarat äusserten Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung scharfe Kritik am Vorgehen Russlands gegen Georgien. Abgeordnete aus mehreren westeuropäischen Ländern rügten die russische Militär­inter­vention als unverhältnismässig und forderten eine unabhängige internationale Untersuchung. Sie verlangten, dass die schwerwiegenden Verletzungen der Menschenrechte und der Souveränität Folgen für die Konfliktparteien haben müssten. Allerdings müsse zuvor zweifelsfrei geklärt werden, wer für den Ausbruch der Kriegshandlungen verantwort­lich sei. Auch Georgien habe übermässige Gewalt eingesetzt.

Russische Mitglieder der Versammlung wiesen die Vorwürfe gegen Moskau entschieden zurück. Den Krieg habe der georgische Präsident Michail Saakaschwili begonnen, betonte der Leiter der russischen Delegation, Konstantin Kosachew. Russland habe reagiert, um die südossetische Minderheit vor georgischen Angriffen zu schützen.

Gross gegen Isolation Russlands

Eine Gruppe von über 20 Europarats-Parlamentariern will der russischen Delegation als Strafe für schwerwiegende Verstösse gegen die Grund­sätze des Europarates das Stimmrecht entziehen. Über ihren Antrag entscheidet die Versammlung am Mittwoch. Eine Mehrheit dafür scheint jedoch unwahrscheinlich.

Der Europarat-Berichterstatter zu dieser Frage, der Schweizer Andi Gross, sprach sich gegen Sanktionen aus. «Ausschlüsse helfen niemandem», sagte der Fraktionspräsident der Sozialdemokraten in der Parlamentarischen Versammlung gegenüber der Nachrichtenagentur SDA. Weitere Konflikte in der Region könnten nur in «offenen, harten und kritischen Auseinandersetzungen» verhindert werden, nicht in der Isolation Russlands. Schuld am Konflikt trügen zudem beide Konfliktparteien, betonte Gross.

Anstelle von Sanktionen plädierte der SP-Nationalrat für einen umfassenden Massnahmenplan. Dieser solle sowohl kurzfristig den notleidenden Menschen über den Winter helfen wie dabei helfen herauszufinden, wie ähnliche Konflikte in der Region verhindert werden könnten.

Der Europarat wird sich voraussichtlich am Donnerstag für eine Untersuchungskommission zu Georgien, spezielle Überwachungs­massnahmen und eine Friedenskonferenz aussprechen.


Kontakt mit Andreas Gross



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