17. Aug. 2008
Sonntags-Zeitung
Zürich
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Zum Krieg zwischen Russland und Georgien um Südossetien:
Der Erfahrungsschatz der Schweiz aus den letzten 200 Jahren wäre in Europa sehr gefragt
Das ungekürzte Interview von Ursula Zenger mit Andi Gross.
Russische Panzer sind im unabhängigen Georgien eingerollt – andere Staaten der Region, die einst zur Sowjetunion gehörten, vor allem die Ukraine und die baltischen Staaten, befürchten, dass sie als nächste dran sein könnten. Ist die Angst begründet?
Sicher nicht. Zumal das Baltikum nicht zur Region gehört und fest in der EU verankert ist. Ebenso wenig wie die Ukraine: Sie muss freilich selber einiges tun, um nicht auseinander zu fallen. Gewiss sind viele Nachbarn Russlands ,wie viele andere Europäer übrigens auch, irritiert und verunsichert. Doch um Russlands Politik, auch die Anmassungen seiner Führung, verstehen zu können, müssen wir lernen, uns und unsere Politik mit deren Augen anzusehen. Nur so machen wir keine neuen Fehler.
Heisst das nicht einfach, Russlands Drohungen nachgeben?
In keiner Weise. Gerade wer nicht möchte, dass Russland wieder ein Imperium wird, wie es seine Führung teilweise vielleicht will, muss analysieren, welchen Verletzungen es sich ausgesetzt fühlt: Die Erniedrigungen Russlands durch den Westen in den 1990er Jahren, seine grossen innenpolitischen Probleme und die mangelnde Empathie der Bush-Administration.
Wie sehen Sie den Hintergrund des Konflikts zwischen Georgien und Russland?
Grundsätzlich haben beide Kriegsparteien, die Führungen Georgiens wie Russlands, ihre an verschiedenen Orten in den vergangenen 15 Jahren eingegangenen Verpflichtungen, die seit langem bekannten Konflikte ohne ihre Armeen zu lösen, verletzt. Tausende von unschuldigen Menschen haben dies mit dem Leben bezahlen müssen, Hunderttausende haben ihr Zuhause verloren. Dies ist inakzeptabel.
Viele Beobachter sind der Ansicht, dass die russische Führung den Konflikt gezielt schürte und nur auf die Gelegenheit wartete, zuzuschlagen.
Es hat tatsächlich seit Jahren auf beiden Seiten immer wieder gegenseitige Provokationen gegeben. Doch sie vernebeln die Sicht auf das Grundsätzliche: Auf beiden Seiten haben wir es mit Staaten zu tun, die teilweise den ihnen unterworfenen Gesellschaften aufgezwungen wurden. Ossetien gehörte seit 1774 zum russischen Reich, nach dessen Zusammenbruch 1917 reklamierte Georgien den südlichen Teil für sich, Tausende starben oder flohen, 1921 setzte sich die Sowjetunion mit Gewalt durch, 1922 schlug Stalin Südossetien als dessen autonomen Teil der sowjetischen Teil-Republik Georgien zu. Das war die Basis des Krieges zwischen 1989 und 1992. Während des Zusammenbruchs der Sowjetunion und nach der Unabhängigkeit Georgiens gab es wieder Tausende von Toten, Zehntausende von Flüchtlingen. M Juni 1992 schlossen Jelzin und der damalige georgische Präsident Schewardnadse einen Waffenstillstand: Kein Krieg mehr, aber auch kein Frieden. Und seither besteht ein permanentes, ungelöstes Problem mehr.
Wir haben es mit Staaten zu tun, deren heterogene Gesellschaften teilweise sich seit Jahrhunderten fremdbestimmt fühlen, dies nicht länger akzeptieren, ihrerseits aber instrumentalisiert werden. Nationalismus und eine rein juristische, souveränitätsspezifische Argumentation und vor allem Agitation helfen da nicht weiter.
Sie kennen Saakaschwili – was hat ihn dazu getrieben, die militärische Konfrontation zu suchen?
Das frage ich mich auch. Er ist gleichsam ein leidenschaftlicher Autokrat, der von der Demokratie nur die Macht liebt, jedoch nicht sieht, dass man diese in einer Demokratie teilen muss. So konnte er zu viel zu schnell zu viel entscheiden und hat so einen ganz grossen Fehler gemacht. Er hat wohl auch viel zu sehr auf die CIA und seine Freunde von US-Republikanischen Partei gehört und zu wenig die Geschichte Finnlands studiert oder jene Kanadas – beide lernten, wie der früherere kanadische Premier Trudeau einmal sagte, als Maus am Fuss eines Elephanten zu leben. Ganz im Sinne Ghandis, der sich auch bewusst war, dass man sich nicht von einem Imperium befreien kann, wenn man mit dem Imperium den Kampf auf jenem Gebiet sucht, wo es am stärksten ist – jenem der Gewalt, des Krieges und des Militärs.
Unter Saakaschwili stieg das Militärbudget Georgiens übrigens nach 2003 von 20 Millionen auf 1,5 Milliarden Dollar; das georgische Militär stellte im Irakkrieg mit 2000 Soldaten das drittstärkste nationale Kontingent und die Regierung unter Saakaschwili hat der Lobbyfirma, die vom aussenpolitischen Chefberater von John McCain geleitet wird, seit 2004 900'000 Dollars Honorargelder überwiesen!
Übrigens rüstet auch die azerische Oligarchie seit Jahren dank immesem Ölreichtum ihr Militär dramatisch auf und einige in Baku glauben wohl ein anderes ungelöstes Problem stalinscher Machtpolitik, den Konflikt um Nagorno-Karabach, mit einem Krieg gegen Armenien lösen zu können ...
Hätte eine Nato-Mitgliedschaft Georgien vor Russlands Reaktion bewahrt?
Nein, ich glaube nicht. Grundsätzlich wär es ein Segen gewesen, die Nato hätte sich 1991 auch aufgelöst und wir hätten ein für alle Demokratien offenes neues Sicherheitsbündnis geschaffen. Doch es ist eine kluge Bedingung der Nato, dass ein Beitrittskandidat keine ungelösten Konflikte mit seinen Nachbarn haben darf. Sonst wäre heute ein Krieg zwischen der USA und Russland schwer vermeidbar gewesen.
Was kann jetzt von Europa zur Beruhigung der Region getan werden?
EU und Europarat sind leider gespalten. Es gibt dort zu viele verschiedene Saakaschwilis und zu wenig Ghandis, Trudeaus oder wie in Finnland seit vielen Jahrzehnten immer wieder auch kluge Sozialdemokraten.
Der Kaukasus gehört zu Europa, hat aber auch für Russland und die USA eine enorme strategische Bedeutung. Die EU und der Europarat müssen sich in jeder Beziehung politisch und wirtschaftlich engagieren, müssen aber auch lernen, sich von den imperialen Aspekten der amerikanischen und russischen Politik zu emanzipieren und die Regimes in den betreffenden Ländern danach zu beurteilen, ob sie den dortigen Völkern wirklich dienen oder ob es autokratische Oligarchien sind, die sich die Interessen der Grossmächte mit imperialen Agenden zu eigen machen.
Was will eigentlich Putin?
Das weiss wohl auch keiner so richtig. Jedenfalls muss er lernen, mit seiner immensen Macht ziviler, das heisst menschenrechtsgemäss und demokratisch, umgehen zu können. Das gilt für die Politik wie für das Militär. Das sich die russiche Regierung den Angriff Saakaschwilis auf den nicht von Georgien kontrollierten Teil von Südossetien nicht gefallen lassen konnte, ist verständlich; inakzeptabel ist aber die unangemessene Art wie dies geschah und vor allem, dass die russische Armee auch noch gleich einen Drittel des nicht zu Südoessetien oder Abchasien gehörenden Teil Georgien besetzt hat.
Diese Überschreitungen haben viel zu tun mit den Erniedrigungen Russlands durch den Westen in den 1990er Jahren, mit dessen grossen innenpolitischen Problemen und der mangelnden Empathie der Bush-Administration. Jetzt verleitet sein ungeheurer Energiereichtum das russische Regime dazu, mit Hardpower wett zu machen, was ihm an softpower mangelt. Dass die USA, die doch über so viel Softpower verfügen, dennoch immer auch mit ihrer Hardpower spielen, hilft den Russen natürlich auch nicht, diesen Irrtum zu vermeiden.
Kann man Georgien/Ossetien wirklich mit Serbien/Kosovo vergleichen?
Eine Bratwurst und ein Bigmac sind zwar beides Nahrungsmittel nichtvegetarischer Art, können also miteinander vergleichen werden, sind aber dennoch etwas total Unterschiedliches. Vergleichen kann man also immer, doch man sollte dabei noch mehr die Grenzen der Vergleichbarkeit kennen. Der Angriff Saakaschwilis könnte etwas mit den Folgen Kosovos zu tun haben, ebenso mit dem Ende der Bushzeit und dem Schatten der Weltaufmerksamkeit, welchen Olympia wirft. Die Interventionen der russischen Armee in Südossetien einerseits und im übrigen Georgien andererseits können aber mit der Unabhängigkeit Kosovos nicht gerechtfertigt werden. Die russische Regierung würde wohl aber ihr Tun viel mehr mit der US-Politik im Irak vergleichen und damit bloss einem ganz grossen Irrtum einen zweiten folgen lassen.
Und die Schweiz, was könnte sie tun?
Würde sie sich genauer und unabhängiger mit dem grossen Europa auseinandersetzen, würde sie merken, wie viel aus ihrem Erfahrungsschatz der letzten 200 Jahre heute gefragt ist. Wir sind wie viele andere kein Nationalstaat und haben gelernt, was das heisst und wie man Vielfalt integrieren kann, ohne dass sie verloren geht. Da könnten wir ungemein viel bieten. Doch wir müssen es erst noch merken und wollen.
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Andreas Gross
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