5. August 2008

Aargauer Zeitung

Zum Tod von Alexander Solschenizyn:
Der Erzähler der Folgen des Totalitären

Von Andreas Gross

Was mein Grossvater, ein Basler mit Aargauer Wurzeln, in all unseren vielen Gesprächen während der 1960er Jahre ganz praktisch bewirkte, festigte Alexander Solschenizyn mit seinem auf russisch bereits 1962 erschienenen Buch Ein Tag im Leben des Iwan Demssowitsch, das ich in einer deutschen Taschenbuchausgabe noch als Mittelschüler 1971 auf Empfehlung eines weisen Buchhändlers las: Die Erkenntnis, dass Freiheit und Demokratie unerlässliche Voraussetzungen – nicht Garantien! – dafür sind, dass politische Ordnungen human werden und den Menschen nicht zum Werkzeug unmenschlicher Zustände werden lassen.

Der Grossvater illustrierte in immer wieder neuen Gesprächen, dass erst die Auseinandersetzung mit dem Andersdenkenden erlaubt, der politischen Wahrheit auf die Spur zu kommen – im wissen, sie nie ganz erfassen zu können. Solschenizyn beschrieb in einer schier nicht auszuhaltenden Anschaulichkeit die Existenz in einem dieser fürchterlichen Arbeitslager, in das verschiedene totalitäre System des 20. Jahrhunderts Dutzende von Millionen derjenigen Männer und Frauen steckten, die sich der Herrschaft jeglichen Unrechtes widersetzten. Der russische Schriftsteller beschrieb die Wirklichkeit der sowjetischen Gulags – machte so aber auch jene Nazi-Deutschlands, Chinas, Pinochets oder von Pol Pot erfahrbar.

Gewiss kann ich Solschenizyns extremen Nationalismus im Russland Jelzins und Putins nicht ganz verstehen: Zu gerne hätte ich mit ihm über die Frage diskutiert, ob im sowjetischen Totalitarismus im Vergleich zur Herrschaft der Zaren nicht mehr Kontinuität als Bruch steckt, die notwendige Kritik also früher und gründlicher ansetzen muss als nur bei Lenin und Stalin.

Doch ich werde den Nobelpreisträger immer respektieren als jenen, der uns vor Augen führte, wohin wir kommen, wenn wir im Anderen nicht ein Teil von uns erkennen und auch ihm zukommen lassen, was wir für uns beanspruchen. Und dass mit Rechtsanwalt und Kantonsrat Fritz Heeb einer der wichtigsten Zürcher SP-Politiker der Nachkriegszeit die Interessen Solschenizyns während seiner Emigration in der Schweiz und darüber hinaus vertrat, war für mich immer ein Symbol für das antitotalitäre Engagement der Sozialdemokratie.


Kontakt mit Andreas Gross



Nach oben

Zurück zur Artikelübersicht