6. Juni 2008

Deutscher Bundestag
Verwaltung
Sprachendienst (WI1)
Dok. 11629
Bearbeitung: ORR'n Meier
13. Juni 2008

Türkei / Griechenland:
Wahrung des bikulturellen Charakters


Europarat - Parlamentarische Versammlung
Ausschuss für Recht und Menschenrechte

Entwurf einer Entschließung betr. Gökçeada (Imbros) und Bozcaada (Tenedos): Wahrung des bikulturellen Charakters der beiden türkischen Inseln als Modell für die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Griechenland im Interesse der betroffenen Bevölkerung


Berichterstatter: Andreas Gross, Schweiz

1. Die Parlamentarische Versammlung begrüßt mit lebhafter Genugtuung die jüngste Verbesserung der Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland, die eine starke Zunahme des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs zwischen beiden Staaten ausgelöst hat.

2. Die verbesserten Beziehungen ermöglichten es den ehemaligen Leitern der türkischen und der griechischen Delegation in der Versammlung, Elsa Papademetriou und Murat Mercan, 2005 den Inseln Gökçeada (Imbros) und Bozcaada (Tenedos) einen historischen Besuch abzustatten, deren Bevölkerung allzu lange unter den Folgen der unterschiedlichen Krisen in den Beziehungen zwischen beiden Staaten gelitten hat.

3. Auf den Besuch im Jahr 2005 folgte die gemeinsame Vorlage des Antrags, der der vorliegenden Entschließung zugrunde liegt. Die geringe Größe der Inseln und ihrer Bevölkerung ermöglicht es, sie aus dem weiteren Zusammenhang der bilateralen griechisch-türkischen Minderheitsfragen herauszulösen, die Gegenstand eines weiteren Berichts der Versammlung sein werden.

4. Die Versammlung ist der Ansicht, dass positive Maßnahmen seitens der türkischen Behörden zur Wahrung des bikulturellen Charakters der beiden kleinen türkischen Inseln nicht nur ein konkretes Zeichen für die Achtung der Rechte ihrer eigenen Staatsbürger durch die Türkei sein werden, sondern auch ein Modell für die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Griechenland im ausschließlichen Interesse der betroffenen Bevölkerung sein könnten.

5. Eine positive Haltung gegenüber den griechischen Inselbewohnern und ihren Nachfahren wäre ebenfalls ein hervorragendes Beispiel für die Bereitschaft der Türkei, veraltete nationalistische Haltungen zu überwinden und sich die europäischen Werte guter Nachbarschaft zu eigen zu machen.

6. Die Versammlung bedauert, dass aufgrund verschiedener Maßnahmen, die zu diesem Zeitpunkt von den Behörden ergriffen worden waren (Schließung aller Schulen der griechischen Gemeinschaft auf den Inseln, Enteignungen in großem Stil, verschiedene Formen von Belästigung), jedoch auch aus wirtschaftlichen Gründen die große Mehrheit der ursprünglichen Einwohner der Insel (ethnische Griechen) ausgewandert ist, weshalb nur ca. 250 meist ältere Mitglieder dieser Gemeinschaft auf Gökçeada (Imbros) und 25 auf Bozcaada (Tenedos) leben. Gleichzeitig haben viele Tausende im Exil lebende Inselbewohner und ihre Nachfahren den Wunsch geäußert, enge Beziehungen zu ihrer Heimatinsel zu unterhalten, indem sie regelmäßig zu traditionellen Festen, Familienzusammenkünften und im Urlaub in die Heimat ihrer Vorfahren zurückkehren, und eine Reihe von ihnen erwägt ernsthaft, sich dort im Rentenalter oder als Unternehmer erneut niederzulassen. Die Mitglieder der Diaspora-Vereinigungen spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, den ständigen Einwohnern zu helfen, mit den objektiven Schwierigkeiten, vor denen sie stehen, fertig zu werden.

7. Positive Maßnahmen sind heute dringend erforderlich, um dem Abwandern der ethnisch-griechischen Bevölkerung von den Inseln Einhalt zu gebieten oder es zumindest teilweise umzukehren, so dass ihr bikultureller Charakter nachhaltig gewahrt werden kann.

8. Die Versammlung begrüßt eine Reihe positiver Gesten der türkischen Behörden der jüngsten Zeit, wie

- den Wiederaufbau des Glockenturms der Kirche der griechischen Gemeinde Bozcaadas (Tenedos) nach dem Besuch des türkischen Premierministers und sein Engagement hierfür;

- die vor kurzem durchgeführte Renovierung der Agios-Nikolaos-Kirche in Kaleköy (Kastro) auf Gökçeada (Imbros);

- die bevorstehende (bereits genehmigte und finanzierte) Restaurierung der ehemaligen Domkirche der Insel, Agia Marina, in derselben Stadt;

- die vielbeachtete beruhigende und hilfreiche Haltung beider kommunaler Unterpräfekten (Kaymakams) gegenüber der ethnisch-griechischen Bevölkerung.


9. Zur Verstärkung der positiven Dynamik sind folgende zusätzliche Maßnahmen besonders dringlich:

- die Erlaubnis, mindestens eine Schule der griechischen Gemeinschaft auf Gökçeada (Imbros) wiederzueröffnen gemäß den Leitlinien der Schulen der griechisch-orthodoxen Gemeinschaft in Istanbul oder der Schulen der muslimischen Gemeinschaft in Westthrakien, sobald eine ausreichende Zahl ethnisch-griechischer Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter sich verpflichtet hat, sich wieder auf der Insel niederzulassen. Die neue Schule soll den Bikulturalismus fördern und auch für die Kinder der ethnisch-türkischen Einwohner Unterricht in griechischer Sprache und Kultur anbieten;

- die Rückerstattung von enteignetem Land und Gebäuden an ihre früheren Eigentümer, wenn dieses Land nicht oder nicht mehr für den öffentlichen Zweck genutzt wird, für den es enteignet worden war. Kann das Land billigerweise nicht zurückgegeben werden, da es auf neue Bewohner übertragen wurde, sollte den früheren Eigentümern eine faire Entschädigung geboten werden, vorzugsweise in Form anderen staatseigenen Landes auf derselben Insel;

- Einleitung spezieller Maßnahmen, die die Rückkehr (in Gebieten, in denen der Katasterprozess abgeschlossen ist) oder die ordentliche Eintragung von Gemeinschafts- und Familieneigentum gewährleisten, einschließlich folgender:

- Treffen von Vorkehrungen für den praktischen Zugang zu den Katasterarchiven der ottomanischen Zeit und zu den Ergebnissen der Umfrage, die 1936 zu einkommensteuerlichen Zwecken durchgeführt wurde für alle Einwohner der Insel und ihre Nachfahren, sowie die Zulassung dieser Dokumente als Eigentumsnachweis im laufenden Katasterprozess;

- Abschaffung der von den Katasterbeamten und Katasterbehörden verfolgten Praxis, nach der ethnisch-griechische Einwohner nicht nur – unter Anführung von Zeugen – nachweisen müssen, dass sie über einen Zeitraum von mindestens 20 Jahren im Besitz des Landes waren, sondern dass sie die Felder oder Häuser zum Zeitpunkt des Antrags noch immer „nutzen“, obwohl sie aus Gründen, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen, gezwungen waren, sie „ungenutzt“ zu lassen;

- Zurückhaltung des 1996 auf den Inseln begonnenen Katasterprozesses bis zur Einleitung der in den Absätzen 9.3.1 und 9.3.2. erwähnten Maßnahmen und somit Ersparen des teuren, zeitraubenden und aleatorischen Gerichtsverfahrens für die Einwohner, das notwendig ist, um eine unrichtige Verwaltungsentscheidung richtigzustellen;

- Vorsehen eines Zeitraums von zehn Jahren, in dem alle in einem Verwaltungsverfahren oder vor Gericht abgewiesenen Ansprüche gemäß der neuen Regelung und nach einfachen, kosteneffizienten Verwaltungsverfahren neu geprüft werden;

- die Anwendung der jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die die Erbrechte von Nicht-Staatsangehörigen für alle anhängigen und zukünftigen Fälle, die Inselbewohner und ihre Nachfahren einschließen, aufrecht erhalten, sowie Absehen von der Anwendung neuer Restriktionen aufgrund der angeblichen militärisch-strategischen Bedeutung der Inseln auf im Exil lebende Inselbewohner, die ihre türkische Staatsbürgerschaft verloren haben und bei denen es nicht vorstellbar ist, dass ihre Präsenz von sogenannter strategischer Bedeutung ist;

- zu gegebener Zeit die Behebung des bereits am natürlichen und kulturellen Erbe der Inseln eingetretenen Schadens, insbesondere durch

- die Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren für die Eigentümer geschützter historischer Gebäude auf beiden Inseln zum Erhalt der Genehmigungen, die für deren Restaurierung und den Wiederaufbau erforderlich sind;

- die zügige Erteilung der Genehmigung an die griechisch-orthodoxe Gemeinde von Bozcaada (Tenedos) zur Restaurierung der Kapelle von Agia Paraskevi und die Ausstellung ordnungsgemäßer Eigentumstitel sowohl im Hinblick auf diese besondere Kapelle als auch auf alle übrigen Besitztümer dieser religiösen Stiftung;

- erneute Überprüfung der dem Wind-Surf Club erteilten Genehmigung, der in die empfindlichen natürlichen Lebensraumzone zwischen dem Salzsee und der Ägäischen See an der Südostküste Gökçeadas (Imbros) hineingebaut ist;

- Verbot aller weiteren Ausgrabungen an dem Naturdenkmal der Kaskavalia-Felsen nahe dem Hafen von Kuzulimani (Agios Kyrikos) auf Gökçeada (Imbros) und Behebung des bereits verursachten Schadens;

- Entfernung der ungenutzten, verfallenen Betonbaracke, die vom Militär auf dem schönen, unter dem Namen Pinarbasi (Spilia) bekannten Platz des ehemaligen Festbereichs des Dorfes Tepeköy (Agridia) auf Gökçeada (Imbros) errichtet wurde und erneute Zurverfügungstellung des gesamten Gebiets für tradtionelle Feste, sowie die Finanzierung des Wiederaufbaus der Agia-Marina-Kapelle;

- in dem Maße, wie es möglich ist, Restaurierung des Hafens Kaleköy (Kastro) aus klassischer Zeit auf Gökçeada (Imbros), der bei dem kürzlichen Bau eines modernen Hafens an diesem Ort zerstört wurde, sowie Erhaltung der Überreste der alten Burg aus venetischer/byzantischer Zeit, die dasselbe Dorf überragt;

- Beibehaltung des ursprünglich religiösen Zwecks der neu restaurierten Kirche von Agios Nikolaos in Kaleköy (Kastro);

- die erneute Gewährung der türkischen Staatsbürgerschaft an diejenigen Inselbewohner, die sie in der Vergangenheit verloren haben, und an ihre Nachfahren;

- die Herstellung einer direkten Verbindung auf dem Seewege zwischen Gökçeada (Imbros) und Bozcaada (Tenedos) sowie zwischen Gökçeada und Griechenland, unter Berücksichtigung der Rentabilität;

- die Verbesserung der Infrastruktureinrichtungen für die Dörfer auf Gökçeada (Imbros), die noch immer von einer erheblichen Anzahl ethnisch-griechischer Einwohner besiedelt sind – insbesondere Tepeköy (Agridia), Dereköy (Schinoudi), Zeytinliköy (Aghii Theodori) und Eski Bademli (Glyky).

10. Zur Hilfe bei der Umsetzung der oben empfohlenen Maßnahmen und zur Förderung der frühzeitigen Ermittlung aller anderen anzugehenden Fragen empfiehlt die Versammlung die Schaffung eines inoffiziellen Mechanismus für den regelmäßigen Dialog (Runder Tisch) unter Einschluss der lokalen türkischen Behörden und von Vertretern beider Gemeinschaften.

11. Die Versammlung ersucht ihren Überwachungsausschuss, die Weiterverfolgung der vorgeschlagenen Maßnahmen (Absatz 9 oben) in ihren Post-Monitoring-Dialog mit der Türkei aufzunehmen.


Kontakt mit Andreas Gross



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