Juni 2008
MDD-Festschrift
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Glückwunsch zu den ersten
und ein Wunsch für die zweiten 20 Jahre:
Überdenkt die Strategie!
Ein (selbst)kritisches Grusswort von Andi Gross (Schweiz)
An unsere allererste Begegnung kann ich mich sehr gut erinnern. Es muss vor weit mehr als 20 Jahren gewesen sein. Der heutige Verein war noch nicht geboren worden. Doch im Untergeschoss einer schmucken Bonner Villa hatte Thomas Mayer bereits ein kleines Sekretariat für die Bürgerinitiative zur Einführung der Direkten Demokratie in Deutschland eingerichtet.
Die Rose war schon da, die Referenz an Beuys ebenso. Die Achberger waren uns beiden mehr als ein Begriff mit ihrer Aktion Volksentscheid zu Beginn der 1980er und den Forderungen nach einer Volksabstimmung über die Stationierung der Nato-Raketen. Doch richtig zusammengebracht hat uns die Zeitschrift. Damals noch ein echter Ort des gemeinsamen Nachdenkens und der Vertiefung der Überlegungen zur Direkten Demokratie. Ich hatte schnell eine Art Korrespondentenrolle aus der Schweiz zu übernehmen, mit Berichten, was sich hierzulande direktdemokratisch tut und vor allem zur theoretischen und historischen Vertiefung dessen, was die Direkte Demokratie ist (kein Plebiszit, keine Basisdemokratie, keine Direktwahl, keine Quoren, aber Legitimität durch Diskussion und ein für alle offener Anstoss zum gemeinsamen Lernen) und wie sie in der Schweiz und den USA hatte erkämpft werden müssen.
Obwohl ganz unterschiedliche Persönlichkeiten mit sehr verschiedenen Hintergründen, haben Thomas und ich uns bestens verstanden und uns in unserer Verschiedenheit auch respektiert. Vielfalt als Stärke und Antithese zur herrschenden Einfalt. Immer wieder traten wir in Deutschland und im gemeinsamen Ausland – im Südtirol beispielsweise, aber sogar in Paris – gemeinsam auf und ergänzten uns bestens. Diese Beziehung überstand den Umzug nach München gut und zum grossen Erfolg in Bayern 1995 konnten einige aus der Schweiz Wesentliches beitragen. Dazu kam, dass wir mit Theo Schiller an der Marburger Uni eine kleine Schule für Direkte Demokratie aufbauen konnten, aus der auch Ralph Kampwirth hervorging, der aus der schon erwähnten Zeitschrift einige Jahre lang eine bis heute unerreichte und wieder mehr als nötige Referenz für die Demokratiebewegungen in ganz Europa zu machen verstand.
Die Mehr-Demokratie-Leute aus dem Westen und Schweizer Radikaldemokraten aus dem Umfeld der Schweiz ohne Armee-Bewegung sowie Freunde des Neuen Forums aus dem Osten waren 1991 mit der Gründung der Eurotopia-Bürgerinitiative in Rostock (Für ein direktdemokratisches, soziales und gewaltfreies Europa) dann auch für einen weiteren, wenn auch weniger bekannten politischen Erfolg besorgt, der über viele Stationen schliesslich dazu führte, dass im neuen Lissabonner EU-Vertrag zum ersten Mal in der Geschichte der Demokratie ein transnationales, partizipatives Bürgerrecht vorgesehen ist. Fazit: Innovative, kreative und fundierte politische Anstrengungen lohnen sich auf allen Ebenen und können auch gegen mächtige Organisationen wie die CSU zum Erfolg führen und Dinge Wirklichkeit werden lassen, die vor kurzem noch als Utopie diskreditiert worden waren. Für diese Erfahrung auch in Deutschland und in der EU möchte ich Euch danken und dazu gratulieren!
Unter Freunden ist ein politischer Dank aber nur glaubwürdig, wenn er auch zu Selbstkritik fähig ist und mit der Bereitschaft verbunden, dazulernen zu wollen. Zu dieser selbstkritischen Reflexion vor allem der letzten zehn Jahre von MDD möchte ich Euch ermutigen. So nach dem Motto: Nur der kann sich treu bleiben, der sich zu verändern weiss. So bin ich überzeugt davon, dass MDD seit der Jahrhundertwende weit unter ihren Möglichkeiten geblieben ist und die Potenziale der Direkten Demokratie auf Bundesebene nicht hat ausschöpfen können. Ihr seid heute eine etablierte Organisation, in dem einige als Funktionäre ein Auskommen haben finden können und betreibt wie Tausende von anderen Organisationen effiziente Lobby- und Pressearbeit.
Doch gemessen am Potenzial, das unsere gemeinsame Sache, die Direkte Demokratie, in Deutschland hat, habt ihr meines Erachtens nicht einmal zehn Prozent der Möglichkeiten auszuschöpfen verstanden. Zu sehr folgt Ihr organisations- und handlungspolitisch dem gleichen Menschenbild wie diejenigen, die mehr Demokratie gar nicht wünschen. Statt mit den Bürgerinnen und Bürgern weitere Bürger und Bürgerinnen zu motivieren, zu engagieren und zu qualifizieren und mit immer mehr von ihnen direkt zu handeln, arbeitet ihr für sie, aber doch viel zu wenig mit ihnen und durch sie. Wenn auf der Titelseite der ZEIT im Mai 2008 die gleichen Irrtümer und Irreführungen über die Direkte Demokratie verbreitet werden können wie vor zehn Jahren und wenn es sich eine Grosse Koalition in Berlin wie zuvor die Rotgrüne Regierung leisten kann, sich nie wirklich ernsthaft mit der Einführung von direktdemokratischen Elementen auf Bundesebene auseinanderzusetzen, dann ist dies auch Zeichen unseres Versagens.
So finde ich, dass wir in Zukunft viel mehr in die Verbreiterung unserer Mitgliederbasis, in deren Qualifizierung und Befähigung zum eigenen selbstverantworteten Handeln für die gemeinsame Sache investieren müssen. In einigen Bundesländern geschieht dies gewiss besser. Doch auf Bundesebene sollten die Ressourcen anders verwendet werden, so dass in neun Jahren 400'000 aktive Mitglieder von MDD ein politisches Klima aufgebaut haben, in dem vor den anstehenden Bundestagswahlen kaum mehr ein Kandidat sich getraut, Einwände gegen die Unterstützung eines parteiübergreifenden Antrages zur Einführung von direktdemokratischen Rechten auf Bundesebene vorzubringen – und wenn, dann solche, deren Diskussion sich wirklich lohnt. Das wäre das schönste Geschenk zum 30. Geburtstag von Mehr Demokratie! Ich wünsch Euch ein solches und bin überzeugt, dass dies möglich wäre, wenn Ihr es wollt und es anders besser anpackt!
Andi Gross, Abgeordneter im schweizerischen Nationalrat und sozialdemokratischer Fraktionsvorsitzender im Europarat, Mitbegründer der GSoA und von eurotopia, Leiter des Ateliers für Direkte Demokratie in St-Ursanne, Lehrbeauftragter in Jena
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