4. März 2008

Tages-Anzeiger
Zürich

«Im Kreml sitzen Kontrollfreaks»

Der Zürcher Nationalrat Andreas Gross hat im Auftrag des Europarats die russischen Präsidentschaftswahlen beobachtet. Sein Fazit: Die Wahl war weder frei noch fair.

Mit Andreas Gross sprach David Nauer in Moskau

Herr Gross, wie lautet ihr Urteil über die russischen Präsidentschaftswahlen?

Das Resultat reflektiert den Willen des Volkes. Die Wahlen waren ein Plebiszit über die vergangenen acht Jahre, und da die meisten Russen insgesamt zu frieden sind, stimmten sie für den Kandidaten des Kremls. Der Urnengang war aber weder frei noch fair. Russland wäre zu mehr Demokratie fähig.

Wo liegt das Hauptproblem?

An der mangelnden Auswahl. Freiheit heisst, dass jeder Bürger einen Kandidaten findet, der seinen politischen Vorlieben entspricht. Das war hier nicht der Fall: Wer nicht für den Kremlkandidaten, einen verrückten Nationalisten oder einen Kommunisten stimmen wollte, hatte keine Wahl.

Was haben Sie am Wahltag gemacht? Was haben Sie gesehen?

Ich habe zahlreiche Wahllokale besucht. Am Abend beobachtete ich die Auszählung eines Moskauer Stimmkreises, wobei ich Zahlen erhielt, die garantiert authentisch sind: Dort lag die Stimmbeteiligung bei 44 Prozent, viel tiefer als die offiziellen Zahlen für das ganze Land. Zudem waren fünf Prozent der Stimmen ungültig, und der Wähleranteil von Dimitri Medwedew lag unter 60 Prozent.

Möchten Sie damit sagen, dass Sie das Wahlresultat für gefälscht halten?

Diese Frage kann ich nicht beantworten, weil ich nicht alle 96 000 Wahlkreise kenne. Aber ich vermute, dass nicht überall so sauber und sorgfältig gearbeitet wurde, wie dort, wo ich zugeschaut habe.

Westliche Wahlbeobachter gelten in Russland derzeit als Feinde des Vaterlands, die sich in innere Angelegenheiten einmischen. Wie haben sich die Behörden Ihnen gegenüber verhalten?

Die Stimmung ist feindselig, seit ich vergangene Woche öffentlich die Wahl kritisiert habe. Die Russen haben sich sogar überlegt, unsere ganze Delegation raus zu werfen. Das beweist mir, dass wir gut gearbeitet haben: Wir sind hier, um in einem autoritären System die Demokratie zu verteidigen und nicht, um den Mächtigen zu gefallen.

In Russland wird häufig argumentiert, das Land habe eben seine eigene, russische Demokratie. Woher nehmen Sie die Legitimation, das russische System zu kritisieren?

Russland hat 1993 beschlossen, dass es Mitglied des Europarates werden will, drei Jahre später wurde es aufgenommen. Damit hat das Land ein Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten abgelegt. An diesen Grundwerten wird es jetzt gemessen.

Es ist doch offensichtlich, dass sich Russland nicht an seine Verpflichtungen hält.

Das stimmt, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass es sich um einen Lernprozess handelt. Demokratie und Menschenrechte werden in keinem Land der Welt perfekt umgesetzt, auch in der Schweiz nicht. Wichtig ist, dass der Wille da ist, diese Werte zu leben.

Haben Sie den Eindruck, dass dieser Wille in Russland da ist?

Ja, ich finde immer wieder Leute, die lernen wollen und die zugeben, dass Russland noch viel lernen muss.

Aber der autoritäre Führungsstil des Kremls ist doch nicht vom Himmel gefallen. Die demokratischen Rechte unter Präsident Putin wurden bewusst abgebaut.

Um dies zu verstehen, muss man weiter zurückschauen: In den Neunzigerjahren gab es eine zügellose Freisetzung von Kräften. Die Herrschaft des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin steht für eine rücksichtslose Privatisierung. Wenige haben sich auf Kosten der Mehrheit unglaublich bereichert. Seither ist das Wort Demokratie diskreditiert in Russland – es steht für Chaos, Unordnung und Oligarchen-Herrschaft. Putin hat dies gespürt und entsprechend gehandelt. Er musste zuerst den Staat wieder aufbauen und Ordnung schaffen. Leider hat er zu viel Ordnung geschaffen, die Schrauben zu fest angezogen. In den letzten Jahren wurde die Gesetzgebung immer restriktiver. Ohne Unterstützung des Kremls ist es heute fast unmöglich, zu einer politischen Kraft zu werden. Ein Beispiel ist Ex-Premierminister Michail Kasjanow, der nicht zu den Präsidentschaftswahlen zugelassen wurde.

Die Anhänger von Präsident Putin sagen: Er hat Russland ein wenig Freiheit genommen, dafür Stabilität geschaffen.

Diese Sichtweise ist nach den chaotischen Neunzigerjahren verständlich. Man muss aber sehen: Der stabilste Ort der Welt ist der Friedhof. Leben ist per Definition instabil, erst recht ein demokratisches Leben. Das wollen viele hier nicht verstehen. Im Kreml sitzen totale Kontrollfreaks, die mit einer strukturellen Offenheit, die eine Demokratie immer wieder bedeutet, nicht umgehen können. Obwohl sie nicht einmal etwas riskieren würden. Vielen Russen geht es heute materiell besser als vor ein paar Jahren. Die Regierung hätte auch freie und demokratische Wahlen gewonnen.

Woher kommt diese Angst vor dem Volk?

In Russland gilt das Volk als Gemüse, das man gelegentliche bewässern muss. Man meint, der liebe Gott habe einen Staat geschaffen und ein Volk. Demokratie heisse, dass der Staat das Volk ab und zu zufrieden stellt. Aber Demokratie ist eben viel mehr: In der Demokratie bestimmt das Volk selber und immer wieder von neuem, was für einen Staat es haben will und wer dort wie viel zu sagen hat.

Wie soll sich der Westen gegenüber dem neuen russischen Präsidenten verhalten, der durch unfaire und unfreie Wahlen an die Macht gekommen?

Wichtig ist, dass diese Wahl nicht illegal war – sie verlief mehr oder weniger nach den russischen Gesetzen. Dass die Gesetze schlecht sind, ist etwas anderes. Russland und Europa müssen zusammenleben. Europa kann nicht frei und sicher sein, wenn sich Russland nicht frei und sicher fühlt. Beide brauchen einander.


Kontakt mit Andreas Gross



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