23. Feb. 2008

Suedostschweiz

«Das Eigene zum Ganzen zu machen ist totalitär»


Mit Andreas Gross sprach Urs Zurlinden


Herr Gross, woher kommen Sie gerade?

Andreas Gross: Aus dem Jura, aus St-Ursanne.

Und wohin geht Ihre nächste Reise?

Gross: Nach Russland.

Sind Sie immer noch der reiselustigste Parlamentarier?

Gross: Der geographisch Teuerste - und darauf bin ich eigentlich stolz. Allerdings ist auf die Verlogenheit dieser Statistik hinzuweisen. Wenn der Schwyzer SVP-Ständerat Bruno Frick als Anwalt 3100 Franken pro Tag berechnet, soll man mir nicht meine 400 Franken Lohn für die Auslandeinsätze vorhalten.

Gibt es Neider?

Gross: Offensichtlich. Ein Journalist muss sich nicht für seine hohe Telefonrechnung verteidigen, denn das gehört zu einem guten Journalisten; wenn ein europäischer Innenpolitiker nicht viel reist, macht er seine Arbeit nicht gut; weil aber in der Schweiz Reisen gleich Ferien heisst, meinen viele, sie müssten mich beneiden.

Sie sind der Reisende in Sachen Demokratie. Wieviel bringt Ihnen Ihr Engagement in Strassburg ein?

Gross: Pekuniär meinen Sie? Das ist der kleinste aller Erträge. Was ich im Europarat mache, wird von der Schweiz bezahlt, und zwar zu den genau gleichen Ansätzen wie im Eidgenössischen Parlament. Zusammen komme ich auf einen Lohn von plus/minus 100 000 Franken. Und das ist doch deutlich weniger als ein Zürcher Gymnasiallehrer verdient.

Welche Erfolge können Sie vorweisen?

Gross: Ich stehe für ein radikal demokratisches Politikverständnis ein.

Wo brennt es aktuell?

Gross: Die Demokratie ist heute viel mehr in Gefahr, als uns allgemein bewusst ist. Denn das ihr inhaltliches Versprechen, nämlich das anständige Verteilen der Früchte der Arbeit und ähnliche Lebenschancen, kann die Demokratie nur leisten, wenn sie den Markt zur Rücksichtnahme zwingen kann auf die sozial Schwächeren und auf die Natur. In Westeuropa gleicht die Demokratie dem Steuerruder eines Schiffes: Das Schiff liegt im Wasser, aber das Steuerruder reicht nicht mehr ins Wasser. Weil sich die Demokratie nur auf die Nation beschränkt, während der Markt schon lange global ist. In den früheren kommunistischen Staaten kommt noch dazu, dass das Erbe des Totalitären bezüglich der Verfahrensgarantien der Demokratie völlig unterschätzt wird. In Russland oder im Kaukasus heisst es immer noch: Wahl gewinnen gleich Staat besitzen und den Gegner ausschalten. Das sind mentale Erbschaften des Totalitären. Das wird von uns völlig unterschätzt.

Nächstes Wochenende findet in Russland die Präsidentschaftswahl statt. Sie sprechen von «Wahlen ohne Wahl».

Gross: Richtig. Denn die Leute haben heute keine glaubwürdige Alternative zum Kreml also keine freie Wahl. Die Wahl ist auch nicht fair: 80 Prozent der TV-Öffentlichkeit ist zugunsten des Premierministers, und der ist nicht einmal zu Streitgesprächen bereit.

Muss sich Russland die Kritik eines Gross gefallen lassen?

Gross: Es geht nicht um mich, sondern um den Europarat. Das ist ein Anspruch. Russland ist Mitglied geworden und hat sich dem Lernprozess zu Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte verpflichtet. In den letzten vier Jahren machte das offizielle Russland hingegen wieder Rückschritte.

Sie wurden soeben zum Präsidenten der 183-köpfigen SP-Fraktion im Europarat gewählt. Ein Ehrenamt?

Gross: Es ist vor allem viel interessante Arbeit mit etwas Gestaltungsmacht.

Spielt die Parteizugehörigkeit in Strassburg überhaupt eine Rolle?

Gross: Der Charakter eines Menschen und seine kulturelle Herkunft sind oft wichtiger als die Parteizugehörigkeit. Anders herum: Mit einem konservativen Schweden habe ich viel mehr gemeinsam als mit einem sozialdemokratischen Italiener, der am Sonntagmorgen zum Coiffeur gehen will im Gastland anstatt in den Urnenlokalen die Wahl zu beobachten.

Neu in der Schweizer Delegation ist die Zürcher FDP-Hardlinerin Doris Fiala. Kein Problem für Sie?

Gross: Im Gegenteil. Sie hat sich um diesen Sitz bemüht und ist jetzt eine begeisterte Europarätin.

Präsident der Delegation ist SVP-Ständerat Maximilian Reimann. Gibt es politische Reibereien?

Gross: Er gehört zu jenen SVPlern und Europarätlern, die sich immer als Verteidigungsminister für ihre Partei und für ihr Land fühlen. Eine der Schwächen des Europarates ist, dass es zu viele Verteidigungs- und Tourismusminister gibt und zuwenig europäische Innenpolitiker.

Die Osterweiterung auf Bulgarien und Rumänien steht an. Darf die Schweiz Nein sagen?

Gross: Die Schweiz darf alles. Nur muss sie auch die Folgen tragen wollen. Wenn sie hier Nein sagen wollte, muss sie sich bewusst sein, dass das ganze Kartenhaus der bilateralen Verträge zusammenbricht. Denn: So wie die Schweiz nie akzeptieren würde, wenn Frankreich Genf anders behandeln würde als Appenzell Innerrhoden oder den Jura, wird die Europäische Union nie akzeptieren, dass Rumänien und Bulgarien anders behandelt würden als Deutschland oder Frankreich. Man kann nicht nur Geschäfte machen wollen, die Spesen aber den anderen überlassen.

Die Personenfreizügigkeit ist auch innerhalb der SP, vor allem in Gewerkschafts-Kreisen, umstritten. Haben Sie Verständnis?

Gross: Auf jeden Fall. Demokratie ist auch ein Versprechen für die gleiche Verteilung von gesellschaftlichen Nutzen und Lasten. Das ist in Westeuropa selbstverständlich: Es gibt kein westeuropäisches Land ohne Gesamtarbeitsverträge und kaum eines ohne Minimallöhne. Deshalb ist die Öffnung mit Regeln zu verbinden, sodass die Lasten ähnlich verteilt sind.

Wie ist das Bild der Schweiz im Europarat?

Gross: Die Schweiz geniesst einen sehr hohen Respekt. Denn wir Schweizer Parlamentarier sind alle autonom leistungsfähig. Dieser Fleiss und dieses Engagement werden geschätzt.

Welchen Einfluss hat eine SVP aufs Image?

Gross: Die Europäer, die über die Schweiz eine viel zu gute Meinung haben, lernen im Europarat auch die SVP-Schweiz kennen - und sind erstaunt.

Was sagen Sie zum aktuellen Zustand der SVP?

Gross: Es mag überraschend tönen: Aber es ist doch ein unglaublicher Fortschritt, wenn ein Berner SVP-Fraktionschef sagen kann, er sehe braune Flecken im Verhalten der zürcherischen und schweizerischen SVP. Dass er den Bruch nicht mehr tabuisiert, ist ein gutes Zeichen. Das zeigt, wie weit es die nationale SVP getrieben hat.

Gibt es also eine Selbstkorrektur innerhalb der SVP? Gross: Selbstkorrektur ist vielleicht ein zu grosses Wort. Aber hoffentlich haben jene, die mit dem Zürcher Kurs nicht einverstanden sind, den Mut, das zu sagen. Mehr als die SVP beschäftigt mich, dass die vom Volk gewählte parlamentarische Mehrheit bei Blochers Abwahl am 12.12. sich ihrer Verantwortung als Mehrheit nicht bewusst ist. Wenn sie diese Verantwortung nicht wahrnimmt, dann unterschätzt sie die unglaublichen Rachepotentiale und -gelüste von Blochers SVP, die mit viel Geld alles machen wird, um in vier Jahren 35 Prozent Wähleranteil zu machen und dann mit drei Bundesräten ihrer Wahl zu kommen.

Parteipräsident Ueli Maurer bezeichnet SVP-Bundesrat Samuel Schmid als "klinisch tot". War es Mord oder Selbstmord?

Gross: Diese Sprache ist ungeheuerlich und völlig unangemessen!

Reine Diffamierung?

Gross: Diffamierung und Verhöhnung des Andersdenkenden: Das ist eine Konstante, die jetzt nicht mehr nur linke Sozialdemokraten trifft, sondern den eigenen Bundesrat. Dass man einen Parteifreund mit solchen Wörtern beschreibt, ist Ausdruck einer Sprache und damit eines Denkens, das in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland die Republik und die Weimarer Demokratie kaputt gemacht hat.

Die SVP und vor allem Christoph Blocher berufen sich sehr gerne auf das Volk als letzte Instanz in einer Demokratie. Was entgegnen Sie?

Gross: Dahinter verbirgt sich ein völkisches Volksverständnis.

Wohin führt das?

Gross: Es suggeriert, dass das Volk etwas Einheitliches ist. Dabei sind die Schweizerinnen und Schweizer in sich selber unglaublich vielfältig. Diese Vielfalt ist ja gerade ein Kennzeichen und die grosse Stärke der Schweiz. Die SVP hingegen suggeriert mit ihrem völkischen Begriff eine Einheit, beziehungsweise eine Einheitlichkeit. So hatte Blocher nach seiner Abwahl gesagt, das Schweizer Volk sei jetzt nicht mehr im Bundesrat vertreten. Das ist entlarvend: Für ihn ist Das Volk ist nur das SVP-Volk. Wenn man das Eigene zum Ganzen macht, ist das ein Element des totalitären Denkens. Das ist totalitär.

Die SVP-Parteibasis applaudiert jeweils geschlossen.

Gross: Und wenn Schmid redet, wird gejohlt und gebuht. Das ist fehlender Respekt gegenüber Andersdenkenden; für diesen Respekt kämpfe ich immer auch in Osteuropa. Was ist Albanien gilt, sollte auch bei uns gelten: Den Minderheiten gehört der Respekt.

Ist die SVP eine Gefahr für die Demokratie?

Gross: Nicht die SVP als ganzes. Aber die Tendenzen innerhalb dieser Partei, welche mit dem schwarzen Schaf in den Wahlkampf gestiegen ist. Der Rassismus dieser Plakate ist vielleicht sogar sekundär. Aber wie man mit dem anderen Menschen umgeht, ihn einfach rauswirft, ist jenseits des in der Demokratie erlaubten.

Gibt es im Ausland Reaktionen auf diese Art von Ausländerpolitik?

Gross: Auf jeden Fall. Das schwarze Schaf ist in der ganzen Welt bekannt geworden. Diesen Klotz haben wir Schweizer jetzt alle am Bein.

Wären Sie Wahlbeobachter in der Schweiz - was würde in Ihrem Bericht stehen?

Gross: Ich würde nachweisen, dass die Schweiz keine fairen Wahlen kennt. Denn die Ressourcen sind völlig ungleich verteilt. Wenn eine einzige Partei mehr als die Hälfte so viel Geld hat als alle anderen zusammen, dann kann es keinen fairen Wettbewerb geben. Diese schätzungsweise mindestens 15 Millionen Franken, welche die SVP für die Wahlen 2007 zur Verfügung hatte, wird sie 2011 verdreifachen. Deshalb wäre für mich eine der wichtigsten Aufgaben der Mehrheit vom 12.12., sich auf Regeln der Transparenz und der Fairness zu einigen.

Die SP allein ist zu schwach?

Gross: Sicher, deshalb spreche ich immer von der Mehrheit des 12.12. Dieses republikanische Bündnis muss sich darauf besinnen, dass ein fairer Wettbewerb Regeln braucht. Ohne Regeln gibt es keine Fairness. Wenn der Prozess, der zu einer Wahl führt, derart unfair ist, fehlt es dem Wahlergebnis an Legitimität.

Was werden Sie am kommenden 11. Juni machen?

Gross: Da bin ich völlig überfragt.

Haben Sie noch kein Ticket für Schweiz-Türkei?

Gross: Als Fussballphilosoph habe ich bewusst die Frist verpasst, mir ein Billet als Schweizer Parlamentarier zu besorgen. Aber ein türkischer Freund im Europarat, mit dem ich viel streite, hat wie in der Türkei üblich sehr enge Beziehungen zum türkischen Fussballverband. Er hat mir ein Ticket für das Türken-Spiel versprochen – wenn ich bereit sei, im türkischen Fanblock zu sitzen, was ich im Sinne einer ethnologischen Studie gerne tue.

Wer wird Europameister?

Gross: Holland, Deutschland, Frankreich und Italien sind immer die Besten. Die werden auch in der Schweiz und in Österreich unter den Besten sein.


Andreas Gross ...
... ist am 21. August 1952 in Kobe, Japan geboren. Nach der Matur in Basel studierte er zunächst Geschichte in Zürich, dann Politikwissenschaften in Lausanne. Es folgten Tätigkeiten als Journalist, als Uni-Assistent in Bern und 1989 die Gründung des wissenschaftlichen Instituts für direkte Demokratie in Zürich. Seit 1998 befindet sich das Atelier pour la Démocratie Directe in jurassischen St-Ursanne. Zum Thema direkte Demokratie hat er regelmässig Lehraufträge an den deutschen Universitäten Marburg, Trier, Speyer und Jena. Seit 1991 sitzt Gross für die SP im Nationalrat und seit 1995 im Europarat. Andreas Gross ist geschieden und Vater zweier erwachsener Kinder. (uz)



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