3. Okt. 2007

ER-Protokoll
(Dok. 11366)

Rücksicht nehmen auf die Schwachen
in der ganzen Welt und auf die Natur


Andreas GROSS, Schweiz, SOC/SOC

Danke, Herr Präsident,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Es tut mir leid, aber ich muss den Gottesdienst ein bisschen stören. Ich habe mit ganz wenigen Ausnahmen den Eindruck, wir machen es uns zu einfach. Auch habe ich den Eindruck, wir vergessen, was wir in diesem Jahr schon beschlossen haben, z.B. über die Krise der Demokratie und die Krise der Umwelt.

Frau Barnett hat gesagt, die Politik müsse das Gleichgewicht herrichten. Wie können wir das tun, wenn unsere politischen Instrumente, wenn die Demokratie dem Ruder eines Schiffes gleicht, das im Wasser liegt, ohne dass das Ruder bis ins Wasser reicht? Dieses Bild hat der Hamburger Bürgermeister von Dohnanyi schon vor 20 Jahren gebraucht, um zu zeigen, dass die nationalen Demokratien nicht mehr in der Lage sind, den Markt zu veranlassen, Rücksicht zu nehmen, nicht nur auf die Schwachen bei uns, sondern vor allem auf die Schwachen in der ganzen Welt und auf die Natur.

Wenn ich Ihnen zuhöre, wenn ich den Bericht lese, dann habe ich als Historiker den Eindruck, man hätte genau das gleiche über die Industrialisierung zwischen 1750 und 1850 sagen können, die damals auch von einigen als Bedrohung, von anderen als Chance empfunden wurde. Der große Unterschied liegt jedoch darin, dass, wenn wir damals so diskutiert hätten, es nie Nationalstaaten mit Demokratien gegeben hätte, die dafür gesorgt haben, dass jeder Mensch unabhängig von seinem Kapitalbesitz, unabhängig von seiner Marktchance, Rechte bekommt. Und aus diesen individuellen Rechten ist politische Macht aufgebaut worden, die erst die Industrialisierung gezwungen hat, Rücksicht auf die Arbeiter und auch auf die Natur zu nehmen.

Unsere ganze Sozialgesetzgebung ist eine Folge dieser demokratischen Errungenschaften, die zwischen 1750 und 1850 erkämpft worden sind. Das europäische soziale Modell, das europäische Gesellschaftsmodell wäre ohne diese demokratischen Errungenschaften nicht möglich. Wenn man das weiter denkt, dann heißt das, wie unser norwegischer Kollege gesagt hat: Die Globalisierung ist eine Tatsache wie jene, dass das Wasser immer abwärts fließt. Ob sie auch in Zukunft eine Chance sein oder immer noch von vielen Leuten als Bedrohung empfunden wird, hängt davon ab, wie wir markt- bzw. weltweit Regeln schaffen können, welche die Globalisierung zivilisieren …

Sie müssen nicht den Kopf schütteln, sondern vielleicht den Kopf nach dem Schütteln eher gebrauchen!

Der Punkt ist, wir können nicht predigen, dass die Globalisierung eine Chance ist; wir müssen beweisen, dass es eine ist, und zwar auch jenen, die nicht privilegiert sind wie wir. Freiheit darf nicht zum Privileg weniger werden, die sich auf der Marktebene behaupten können.

Das ist es, was ich hier vollkommen vermisse. Das haben wir im Juni beschlossen, wir haben es im April beschlossen, weshalb vergisst das der politische, der Wirtschaftsausschuss im Oktober? Ich bin überzeugt, dass es eine Chance sein kann, aber nur wenn wir endlich - und dafür ist der Europarat prädestiniert - darüber nachdenken, die heute fehlenden Institutionen aufzubauen, um die Globalisierung, den Weltmarkt, zu zivilisieren. Und zwar liegt dies nicht nur in unserem Interesse zu Hause, sondern im Interesse der Afrikaner, der Lateinamerikaner, der Asiaten, die nicht so starke Staaten um sich herum haben wie z.B. die skandinavischen Länder, die Niederlande oder die Schweiz, welche sich immer noch behaupten kann.

Da muss man sich überlegen, dass man das Modell Skandinaviens, der Niederlande oder der Schweiz nicht einmal auf Deutschland und Frankreich übertragen kann. Es gibt hier eine Grenze der Größe, welche Frankreich und Deutschland z.B. nicht erlaubt, dem Modell Dänemarks oder Hollands nachzufolgen. Das ist eine ganz große Schwierigkeit, die wir uns eingestehen müssen.

Nur um Ihnen zu zeigen, wie dramatisch die Frage ist: Weshalb haben bei uns die Nationalisten so großen Zuspruch? Weil sie einerseits genau von jenen gewählt werden, welche die Globalisierung als Bedrohung empfinden und Angst haben, und weil die Nationalisten die einzigen sind, die noch die Demokratie für sich glauben pachten zu können. Denn wir als Transnationalisten, als Internationalisten können keine entsprechende Sicherheit anbieten, nämlich dass jeder Mensch Rechte hat, aus denen heraus auch weltweit die Macht entsteht, die die Globalisierung zwingt, Rücksicht zu nehmen. Die Gewerkschaften oder die Politik alleine können das nicht tun. Die Verfassung, die Rechte, die jeder Mensch haben muss, müssen wir auch weltweit heute erst erkämpfen.


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