26. April 2007
Aargauer Zeitung
Mittellandzeitung
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EU-Bürger-Initiative für EU-Verfassung?
Der EU-Regierungsgipfel darf die europäische Demokratie nicht vergessen
Von Andreas Gross
Andreas Gross ist Politikwissenschafter und Zürcher SP-National- und Europarat. Seit 1992 war er an der Uni Marburg (Hessen) Lehrbeauftragter für Demokratiefragen; in einem dieser Seminare entwickelte er mit Kollege Theo Schiller und den Studierenden auch die hier erörterte Idee der europäischen Verfassungs-Initiative.
Zwar war die Schweiz der Europäischen Union (EU) institutionell und rechtlich noch nie so nahe wie heute – und doch fühlten sich noch nie in den vergangenen 50 Jahren so viele Schweizerinnen und Schweizer der Europäischen Integration so fern wie gerade jetzt. Fast 20 grosse Staatsverträge und mehrere Dutzend kleinere Abkommen verknüpfen die schweizerische Politik und vor allem die Arbeitswelt der meisten Schweizerinnen und Schweizer mit Europa und der EU so dicht wie nie zuvor. Dennoch war die emotionale und mentale Distanz vieler Schweizer Bürgerinnen und Bürger zur EU noch nie so gross wie jetzt. Der „Steuerstreit“ ist mehr Ausdruck der Beziehungskrise als deren Ursache. Vor den nationalen Wahlen im Herbst werden die wenigen Brückenbauer auch kaum mehr Gehör finden – zu viele glauben von dieser Polarisierung profitieren zu können.
Doch so wie die moderne Schweiz von 1848 nicht nur ihren damaligen liberalen Gründungserfolg sondern ihre ganze seitherige Existenz und Identität auch Europa verdankt, wird sie ohne Europa auch in Zukunft nicht die Schweiz bleiben können, die sie sein möchte. Nur einige wenige Bankiers schaudert nicht vor der Vorstellung, die Schweiz könnte in 50 Jahren das grosse Monaco Europas sein.
Entsprechend sollte uns die künftige politische Form der EU nicht gleichgültig sein. Vielmehr sollten wir erkennen, wenn wir im eigenen Land Erfahrungen gemacht haben, die auch für die Zukunft der EU interessant und hilfreich sein könnten. Und merken, wann wir diese in die europäische Diskussion zur Überwindung der seit zwei Jahre nun andauernden europäischen Verfassungskrise einbringen sollten. Ein solcher Moment ist nun gekommen. Vergangenen Freitag erläuterte der britische Premier Tony Blair Vertretern von sieben grossen europäischen Zeitungen, wo der Konsens der 27 europäischen Staats- und Regierungschefs verortet werden und wie er sich einen starken (europäischen) Abgang verschaffen könnte. In enger Absprache mit der Bandeskanzlerin und derzeitigen EU-Vorsitzenden Merkel, die Blair dafür dankbar ist und den Konsens zumindest in Bezug auf das Verfahren kurz nach der Wahl des französischen Staatsoberhauptes bekannt geben wird.
Kern des Konsenses von Merkel, Blair & Co.: Verzicht auf das europäische Verfassungsprojekt, Beschränkung auf einen neuen «vereinfachten Änderungsvertrag» als Grundlage und zum besseren Funktionieren der Union der 27 Staaten, auszuarbeiten an einer Regierungskonferenz, die Ende Juni beginnen und unter der portugiesischen EU-Präsidentschaft Ende dieses Jahres abgeschlossen werden soll; dies würde die Ratifikation des neuen EU-Vertrages bis und mit der nächsten Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 2009 möglich machen.
Eine Verfassung ist seit der amerikanischen (1776) und der französischen Revolution (1789) die Grundlage jeglicher Demokratie, Ausdruck der Volkssouveränität und die einzige Quelle legitimer politischer Macht. Seit den beiden befreundeten, massgeblichen Pionieren der Demokratie, Tom Paine aus Philadelphia (1737-1809) und Marie Condorcet aus Paris (1743-1793), gilt ebenso, das eine echte demokratische Verfassung der Zustimmung der Mehrheit, der ihr verpflichteten Bürgerinnen und Bürger bedarf, des obligatorischen Verfassungsreferendums also.
Heute ist die Demokratie in einer doppelten Krise. Einerseits beschränkt sie sich zu sehr auf die Wahldemokratie. Andererseits kann sie national angesichts der längst transnationalen Wirtschaft ihr Versprechen, eine faire Verteilung der Güter und Lebenschancen, nicht einlösen. Entsprechend bedarf die Demokratie ebenso der Verfeinerung wie der Transnationalisierung, zumindest der Europäisierung.
Die progressivsten Pioniere der europäischen Integration waren sich 1945 der Notwendigkeit eines demokratisch und föderalistisch verfassten Europas durchaus bewusst. Doch der Kalte Krieg verhinderte es. Man baute die Europäische Integration auf Verträgen statt auf einer Verfassung, integrierte bloss Staaten und deren Elite und nicht die Völker und einfache Menschen, und ging wirtschaftlich statt politisch voran. Als 1989 der Kalte Krieg zu Ende war, meinte die Mehrheit der europäischen Eliten, der Euro sei wichtiger als das alte Verfassungsprojekt. Eine halbbatzige, ungetüme Verlegenheitslösung namens «Verfassungsvertrag» scheiterte im Frühjahr 2005 in den zwei Referenden von Frankreich und den Niederlanden.
Der überzeugendste Europäer unter den gegenwärtigen EU-Regierungschefs, der Belgier Guy Verhofstadt, wäre auch heute noch für ein echtes EU-Verfassungsprojekt. Doch der Mehrheit seiner Kollegen fehlt die Einsicht, wie sehr Europa mehr Demokratie und die Demokratie mehr Europa bedarf.
Umso mehr könnte die EU veranlasst werden, den Beschluss über die Einleitung eines echten europäischen Verfassungsgebungsprozesses den Bürgern der EU zu überlassen. Dies könnte im künftigen EU-Vertrag durch eine Art Europäische Verfassungsinitiative festgehalten werden, mit der 10 Millionen EU-Stimmberechtigte das Recht bekämen, den so anspruchsvollen Übergang von einem EU-Vertrag zu einer EU-Verfassung zu verlangen, einzuleiten und so in einer einzigartigen Weise auch zu legitimieren. Entsprechend der Devise: Demokratie ist nur ein Ziel. Sondern vor allem auch ein entscheidender Weg.
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