Juni 2006
Korrespondenz AG
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Wir müssen uns gegen die Entmachtung der nationalen Demokratien und die Banalisierung des Demokratieverständnisses wehren
[fk] Nachstehend sei das typische Beispiel einer Korrespondenz dokumentiert. Als Reaktion auf einen Zeitungsbericht kritisiert ein Leser Andi Gross; er sei ein Drängler hin zur EU. Andi Gross antwortet dem Kritiker und fragt nach, wie er denn darauf komme, ihn, AG, als Drängler zu bezeichnen. Daraus entwickelt sich folgender Briefwechsel:
1. Juni 2006
Lieber Herr Gross,
ich achte ihre Absicht, mit einem Beitritt die EU demokratischer machen zu wollen. Allein mir (und SEHR vielen andern) fehlt der Glaube. Hat sich etwa jemand von den 'Grossen', die längst mitentscheiden und vielfach über die Köpfe der 'Kleinen' hinweg allein entscheiden, jemals zu den Verhältnissen in Italien geäussert, oder jetzt zu denjenigen in Polen? Alle sogenannten EU-Kernländer (sie lassen sich auch gerne 'Avantgarde' nennen) sind in tiefen Krisen. In Frankreich ist und in Italien war ein Krimineller an oberster Stelle. Deutschland hat nun eine Spitzenpolitikerin, die den Anstand als Mittel zum Zweck wieder wahrt. Aber der erbärmliche Weg des wirtschafts- und sozialpolitischen Niedergangs wird weitergeführt. Gerechtigkeit und Gleichheit geht ständig vor Freiheit.
'L'Europe à géometrie variable ist Gegenwart'; und dieser Zustand wird sich noch festigen. Die 'Kleinen' sind schneller, besser. Und je mehr die 'Grossen' auf Vertiefung über die Köpfe der Bürger hinweg drängen, desto näher werden wir in Europa an einen Zustand wieder herankommen, den wir bis zur de facto-Auflösung der EFTA beim Austritt des UK vorfanden. Und dann kann es sich die Schweiz überlegen, ob sie ein institutionelles Arrangement eingehen kann, das es ihr erlaubt, Besonderheiten zu bewahren. Nur so wird es gehen. Nicht so, wie es die SP jetzt möchte. Subito beitreten, aber die Rosinen behalten. Was ich Ihnen im Gegensatz zu anderen EU-Turbos zugute halte, ist Ihr Verhalten. Sie argumentieren weiter, ohne zu 'täubelen', wie es etwa Herr Kellenberger soeben wieder getan hat. Was Not täte, in sehr vielen Ländern der EU, wäre die Erledigung von nationalen Hausaufgaben. Aber diejenigen, denen Sie sich so gerne beim Entscheiden zur Seite stellen möchten, flüchten immer wieder in die Suche nach Lösungen auf der nächst höheren Ebene. Die Subsidiarität ging doch längst flöten. Das Phänomen finden Sie übrigens auch auf 'tieferer' Ebene. Die mittlerweile deutlich verebbte EU-Euphorie in der Romandie (die Sie ja so gut kennen) war (auch) Ausdruck des Unvermögens oder Unwillens, die Probleme vor der Haustüre zu lösen. Genf und Waadt insbesondere haben immer noch grösste Mühe damit. Und auch die SP, ganz speziell die westschweizerische.
Und jetzt noch einiges zum Fussball. Auch ich werde mich häufig vor die Glotze setzen. Aber eigentlich habe ich diesem Sport bzw. seinen 'Nebenerscheinungen' die grosse Liebe schon vor Jahren gekündigt. Ich war Jahrzehnte lang insbesondere ein Anhänger des Spirit, wie man ihn auf und am Rande von Fussballfeldern in England vorfand (jetzt findet man ihn nur noch in Schottland und Irland). Seit in England beinahe nur noch Geld regiert und z.B. bei Arsenal (war mal mein Lieblingsclub) nur noch Legionäre kicken, in Deutschland, Spanien und Italien (vor allem) Rassisten auf den Zuschauerrängen ungestraft pöbeln, ist meine Liebe zum Fussball deutlich kleiner geworden. Ich bin 62 Jahre alt. Seit bald 50 Jahren verfolge ich Rugby auf den französischen Fernsehkanälen. Le Tournoi des cinq Nations (jetzt sind es 6 Länder; Italien durfte aufschliessen)fasziniert mich. Immer mehr. Beim Rugby findet man auf dem Spielfeld noch Härte mit Fairplay und feiern von 'Versuchen' (entspricht in etwa dem Tor beim Fussball) mit Stil.
Nicht mit Menschentrauben von Spielern, schwenken von Leibchen oder hochsteigen an Zäunen. Ein kurzes Abklatschen genügt. Noch eindrücklicher und erfreulicher sind die Geschehnisse auf den Rängen. Vor, während und nach einem Rugby-Spiel (insbesondere bei internationalen Treffen) wird gefeiert und verbrüdert. Und am Schluss des Spiels bildet die Verlierermannschaft beim Ausgang ein Spalier für die Sieger. Bis vor ca. 40 Jahren war dies übrigens beim Fussball teilweise auch noch üblich. 2007 findet in Paris die Rugby-WM statt. Dort würde ich gerne Viertel- oder Halbfinals sehen. Ist aber sehr schwierig, Tickets zu bekommen. Es ist ja auch richtig, dass Clubmitglieder Vorkaufsrechte haben. Rugby-Fans sind absolut vorbildlich. Unabhängig von Nation oder Hautfarbe.
Beste Grüsse
Erich Heini
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Paris, 6. Juni 2006
Lieber Herr Heini,
Zuerst zwei Vorbemerkungen: Ich schreibe wieder nach einer Kommissionssitzung in Paris – diesmal wegen Aserbeidschan und Montenegro – auf einem Computer mit französischer Tastatur – deshalb wird es einige Tippfehler geben, die ich Sie zu entschuldigen bitte.
Zweitens schlage ich vor, dass wir diese interessante Korrespondenz via meine Homepage teilöffentlich machen, nach dem Ihr etwas ungeduldiges Nachfragen ja bereits teilöffentlich ist, kann dies substanziell auch so sein, denn der Inhalt ist ja durchaus interessant und vielleicht sogar wichtiger. Es gibt auf der Homepage eine Rubrik mit Dialogen, wo dieser durchaus einen guten Platz hat. Ich nehme an, Sie haben nichts dagegen. Zuerst nun zum Fussball, wo die Verständigung noch einfacher scheint. Ich bewundere Ihre Ausführungen zum Rugby sehr und kann sie sehr gut nachvollziehen – nur fehlt mir der Zugang zu diesem Sport völlig, vielleicht weil ich ihn von vornherein eben als scheinbar gewaltsamer missverstanden habe. Doch dank Ihnen werde ich nun genauer nachsehen und vielleicht entwickelt sich da etwas Ähnliches wie bei Ihnen. Jedenfalls weiss ich aus der britischen Literatur, dass der Rugby-Sport dort eher in der Arbeiterklasse zu Hause war und ist und der Fussball vielmehr etwas für und von der Mittelklasse und somit wäre Ihr Plädoyer eigentlich ein grosses Lob für die Arbeiter, die sich der Kommerzialisierung eher widersetzen konnten.
Ebenso teile ich Ihre Bemerkung in Sachen Rassisten beim Fussball; ich habe schon 1998 in einer Tagi-Kolummne mich öffentlich geschämt dafür, wie die Muttenzerkurve einmal mit Makalakane umging, als der als einer der ersten Schwarzen auf den hiesigen Fussballfelder mit dem FCZ in Basel vorbeikam. Und seither ist die Kurve nicht ziviler und humaner geworden ...
Doch Arsenal bewundere ich immer noch, vor allem wegen Wenger, der mir einer der klügsten und weisesten Trainer zu sein scheint. Und ich versuche die Spielklasse eines Henry vom Geld zu trennen, in dessen Sphären er spielt – würden wir immer und überall vor allem nur noch auf das pekuniäre Umfeld schauen, wir könnten ja auf dieser Welt nichts mehr schätzen – denken wir nur an die Schweiz, die Kunst der Avantgarde, Kandinsky u.a.m.
Nun zu Europa:
Meine ursprüngliche Nachfrage wg. des Drängelns haben Sie eigentlich noch nicht beantwortet.
Doch ich denke tatsächlich, wir sollten möglichst rasch die Demokratie transnationalisieren beispielsweise im Rahmen einer europäischen Verfassung, weil sonst die nationale Demokratie der transnationalen Wirtschaft keine diese zur Rücksicht zwingenden Leitplanken setzen und
Freiheit so eigentlich zur Freiheit der Privilegierten verkommt. Da ist, glaube ich, der Grunddissens zwischen uns, denn Sie scheinen einen anderen Freiheitsbegriff zu verteidigen, der nichts dagegen einzuwenden hat, dass nur die wirtschaftlich starken frei sein können sollen.
Nun zu den Punkten, die ich ähnlich sehe:
Die grossen EU Staaten sind tatsächlich in tiefen politischen Krisen. Ich zähle aus demokratiepolitischer Sicht GB und D durchaus zu F und I hinzu. Doch dies hat vielleicht auch viel mit der Entmachtung der nationalen Demokratien und der Banalisierung des Demokratieverständnisses in diesen Ländern zu tun.
Zu Polen und Italien müssen wir uns durchaus äussern – und dies tun wir im Europarat, dem grossen Europa der 46 und derjenigen europäischen Organisation, die sich vor allem mit Werten und normativen Prinzipien der Demokratie befasst. In Sachen Rechte der Schwulen und Lesben mache ich persönlich einen Bericht, der mich auch noch nach Polen bringen wird mit kritischen Fragen, nachdem ich schon im sehr fortschrittlichen Spanien zum besseren Verstehen deren Progressivität gewesen bin. Und zur Medienkonzentration in Italien haben wir eben heute zwei Berichterstatter bestimmt, die einen ausführlichen Bericht machen werden und Vorschläge zur weiteren Reform.
Ebenso teile ich Ihre Meinung, dass die Kleinen heute in Europa innovativer und kreativer sind als grosse. Die besten Kleinen sind aber auch in der EU und sind gerade auch deswegen gut geworden. Und als Teil der Familie inspirieren sie andere viel mehr als wir, die immer als egoistische Besserwisser von aussen angesehen werden, von denen man entsprechend nichts wissen will und nichts zu lernen können glaubt.
Ich bin auch der Meinung, dass in Europa zu viel ohne und sogar gegen die Menschen vertieft wurde, so das sich diese heute gegen Europa aufzulehnen beginnen. Deshalb kämpfe ich ja für Demokratie auf EU Ebene und deshalb braucht es so dringend eine föderalistische Verfassung. Föderalismus ist übrigens besser als Subsidiarität. In der Logik des letzteren bestimmtdas Zentrum, was die Teile dürfen, im Föderalismus bestimmen die Teile, was das Zentrum soll. Das grosse angelsächsisch begründete Missverständnis in der EU, an dem sie seit Jahren leidet!
Und nun zum Dissens:
Von Gerechtigkeit ist in Europa immer weniger die Rede und Freiheit wird nur noch als Angelegenheit der Privilegierten verstanden. Da ist ein ganz grosses Missverständnis. Ich bin für Wirtschaftsfreiheit, jedoch im Rahmen einer transnationalen Verfassung; die alle Starken zwingt, auf Schwache und nicht marktmässige Akteure und Güter wie die Natur Rücksicht zu
nehmen. Das kann national niemand mehr, deshalb haben heute so viele Menschen in Europa und in der Welt, den Eindruck, so rücksichtslos behandelt zu werden, was sie selber rücksichtslos werden lässt.
Ob die EU demokratischer werden kann, ist keine Glaubensfrage. Und dass heute sehr viele andere, wie sie sagen, nicht daran glauben, ist kein gutes Argument dagegen. Alles, worauf sie heute stolz sind, wurde einmal von Mehrheiten abgelehnt. Das Grosse, Bessere und Gute kommt nie von innen aus der Mehrheit, sondern stets von den Rändern, muss aber erst eine Mehrheit überzeugen, bevor es realisiert werden kann. Und das braucht seine Zeit. Der Anfang und das notwendige Mittel sind aber zwei verschiedene Dinge.
Könnten Sie wie ich so viel auch ausserhalb der Schweiz mit Menschen in der EU über die EU sprechen, dann würden Sie auch sofort merken, wie viele Menschen in der EU viele der Kritiken vieler Schweizer an der EU teilen und wie sehr wir bei diesen anderen Bündnispartner hätten. Es ist also eine Frage, wie zur Kraft politisch zusammenkommt, was zusammengehört, damit die notwendigen Reformen endlich möglich werden. Das ist nicht einfach, aber sehr möglich und noch mehr nötig. Deshalb engagiere ich mich auch so. Und Fortschritte zum Besseren lassen sich in Europa auch erkennen. Ebenso hat sich diese Art des Vorgehens in der Schweiz übrigens schon mehrfach bewährt.
Gewiss werden nie die Mächtigen und Grossen für mehr Demokratie arbeiten. Doch das war auch bei uns nie so und deswegen heisst dies nicht, dass es nicht möglich ist und schon gar nicht, dass es nicht richtig wäre.
Ich hoffe, Sie verstehen mich jetzt auch nichtsfussballerisch besser und
grüsse freundlich
Andi Gross
Kontakt mit
Andreas Gross
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