26. Feb. 2007
Aargauer Zeitung
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Das Zürcher Schauspielhaus veräussert das Kapital von Karl Marx
«An allem ist zu zweifeln!»
Das Büchlein Common Sense von Tom Paine, im Januar 1776 in den Neuenglandstaaten veröffentlicht und mitentscheidend für den Erfolg der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, erzielte damals zwischen Philadelphia und Boston Auflagen, welche höher waren als diejenige der Bibel.
Nicht ganz 100 Jahre später (1867) veröffentlichte der deutsche Revolutionär Karl Marx in London den ersten Band von Das Kapital mit dem Untertitel Zur Kritik der politischen Oekonomie. Es verdrängte zwar nie die Bibel von den Bestsellerlisten und die Revolutionen, die sich auf Karl Marx beriefen, scheiterten mehr als dass ihnen ein nachhaltiger Erfolg beschieden war.
Doch es gab seither wohl nirgendwo auf der ganzen Welt ein aufmüpfig gesinnter Mensch, der sich nicht einmal mit Karl Marx auseinandergesetzt oder nicht zumindest einen Blick in sein epochales Werk zum Wesen des Kapitalismus geworfen hätte. Möglicherweise nach der Devise, die Karl Marx selber im Poesiealbum seiner Tochter als sein Lieblingsmotto bezeichnet hatte: «An allem ist zu zweifeln.»
In der alten Fabrik
Jetzt, da die Kathedralen der Arbeit, die Fabriken, aus der Stadt aus- und nach China abzogen, die einseitig wirtschaftliche Globalisierung einige der Marxschen Erkenntnisse aber wieder besonders aktuell erscheinen lässt, brachte das Zürcher Schauspielhaus Marx' Kapital auf die Bühne seines Schiffsbau, auf dem Areal der früheren Zahnradfabrik Maag. In Form einer Gemeinschaftsproduktion mit drei Theatern aus Berlin, Düsseldorf und Frankfurt, unter der Regie von Hildegard Haug und Daniel Wetzel von der Gruppe Rimini Protokoll. Haug und Wetzel sind zwei Theaterleute, die nicht mit Schauspielern arbeiten, sondern mit Menschen, die selber ihr eigenes Leben auf die Bühne bringen wollen, sogenannte Experten des Alltags. So wird Wirklichkeit nicht dargestellt, sondern einfach auf die Bühne geholt.
Es gibt wohl nur wenig Bücher, die wie Marxs Kapital die Wirklichkeit ergründen und verstehen helfen wollen, die selber aber Ausdruck einer so hohen Abstraktion sind, dass sie kaum mit gelebter, individueller Wirklichkeit identifiziert werden können. Schwer vorstellbar, wie dies sogar noch auf der Bühne geschehen soll.
Text und Wirklichkeit verbinden
Hildegard Haug und Daniel Wetzel verzichteten darauf, aus Marx' Text einen Bühnentext zu machen. «Seine einzig sinnvolle Bühne», schreiben sie schön im mickrigen Programmheft, «liegt zwischen zwei Buchdeckeln.» Sie wollten vielmehr herausfinden, welche Rolle dieses Buch im Leben von acht Menschen spielten, die in den vergangenen 50 Jahren in Deutschland lebten - die Schweiz kennen sie nur aus der Sicht deren Treuhänder. Auftreten lassen Haug & Wetzel ihre acht Experten des Alltags 100 Minuten lang vor einer riesigen, vom Bühnenbildner Daniel Schulz wunderschön gestalteten Studentenbuden-Wohnwand aus den späten 1960er Jahren mit viel vergammelter Kistenromantik, 45er Schallplatten, und Dutzenden der berühmt-berüchtigten blauen Marx & Engels-Werkbände und ebenso schmuddeligen Kaffeetassen.
Besonders überzeugend gelingt die Verbindung zwischen Marxens Text und seinem Alltag dem Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski; kein Wunder, denn er musste sich zwischen 1968 und 1991 an DDR-Akademien auf dessen Basis mit konkreten Wirklichkeiten auseinandersetzen. Zwar kann Kuczynski immer wieder mit viel Selbstironie über Marx erzählen, doch auch er lässt sich nicht auf die Beantwortung der Frage ein, wie viel die schwierige Lektüre heute noch einen tatsächlich hilft, die heutige Wirklichkeit der Globalisierung zu verstehen. Vergeblich dürften viele Besucher auf derartige Hinweise auch beim Letten Talivaldis Margevics gewartet haben, oder bei Jochen Noth, einem der klassischen westdeutschen 68er, die die Zukunft Europas in China und beim Maoismus suchten. Ulf Mailänder beschränkt sich auf die Darstellung des Auf- und Abstiegs des hochstaplerischen Anlageberaters Jürgen Harksen, dem er zu einer Autobiografie verhalf. Ralph Warnholz muss als intensiver Glückspieler den Traum der armen Leute vom schnellen Geld personifizieren, der junge Sehbehinderte Christian Spremberg liest zwar viel aus dem auch in Blindenschrift übersetzen Kapital, sagt jedoch wenig dazu , ebenso wenig die einzige Frau, die Übersetzerin Franziska Zwerg. Dafür personifiziert der Jungkommunist Warnecke im Che-Guevara-Leibchen, dass die grosse Botschaft von Karl Marx, dass das Leben kein Schicksal ist und keine Realität zu grau, als dass man sich ihre Veränderung nicht vornehmen könnte, auch ohne grosse Lektüre verstanden werden kann.
Wer das Kapital nicht kennt, wird nach dem Besuch dessen theatralischen Veräusserung es kaum eher in Angriff nehmen als ohne. Wer einer der blauen Bände noch zu Hause hat oder ihm in Antiquariat begegnet, wird ihn möglicherweise etwas andächtiger in den Händen halten. Ein Anstoss zur tieferen Auseinandersetzung mit Marx bot der Abend aber nicht. Dafür waren die Schnittstellen zwischen Text und Wirklichkeiten zu dünn, die Inszenierung zu nahe bei einer Soap-Opera und zu weit weg von Reflektion.
Vielleicht war im Zürcher Schiffsbau die extrem deutsche Alltäglichkeit und Geschichtlichkeit eine zusätzliche Quelle der Entfremdung; wie anders würde es uns wohl packen, wenn Schweizer Historiker, CEOs, Politiker, Gewerkschafter und Bänkeler ihren Bezug zu Marxen's Kapital darstellen, von dem sie in ihrer Jugend mal mehr oder weniger hörten, sich dann aber real um so mehr damit befassten und ... akkumulierten.
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Andreas Gross
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