26. Nov. 2006
Neue Luzerner Zeitung
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«Wir müssen die Ursachen angehen, die den Rechtsextremen stets Menschen zuführen»
Die Fragen stellte: Widmer NLZ
Zuerst eine Grundsatzfrage: wo ziehen Sie die Linie? Welche europäischen
Parteien gehören für Sie zum rechtsextremen, welche zum rechtspopulistischen
Spektrum? Ist dies überhaupt zu unterscheiden?
Sie haben recht, wir müssen differenzieren und die Unterscheidungen sind
sogar sehr wichtig. Als rechtsextrem sind Parteien, Gruppierungen und
Positionen zu bezeichnen, welche die Gewalt als Mittel der politischen
Auseinandersetzung nicht ausschliessen sowie manchmal sogar billigend in
Kauf nehmen.
Dem Begriff rechtspopulistisch ziehe ich die Bezeichnung
nationalkonservativ vor, wobei viele Analytiker darunter sehr ähnliches
verstehen: Bewegungen und Tendenzen zu verstehen, die der Moderne
misstrauen, ebenso dem Staat und den Intellektuellen, paradoxerweise vom
gleichen Staat aber die existenzielle Absicherung erwarten, die er
angesichts der Globalisierung alleine nicht mehr leisten kann und mehr oder
weniger grosse Schlagseiten hin zu Nationalismus, Fremdfeindlichkeit,
Rassismus, Ethnozentrismus und sogar Antisemitismus entwickeln. Der Stil
dieser Nationalkonservativen oder Rechtspopulismen ist hemdsärmlig, deftig,
simplifizierend und sehr emotional.
Sie verteidigen heute teilweise Positionen, die vor wenigen Jahren noch als
rechtsextrem bezeichnet wurden: Auch in dieser Beziehung haben Sie recht,
die Übergänge sind fliessend. Schliesslich können auch Worte gewaltsam sein
und oft ist es dann nur noch ein kleiner Schritt hin zu tätlicher,
brachialer, eigentlicher Gewalt und Gewaltanwendung.
Grundsätzlich fällt auf, bei vergangenen Parlamentswahlen in europäischen
Staaten haben rechtsextreme Parteien stets zu den Gewinnern gehört. Sind
diese Parteien generell im Aufwind?
Ich würde nicht von einem neuen Aufwind sprechen, sondern eher von einer
Verallgemeinerung und der Stabilisierung der Präsenz von rechtsextremen und
nationalkonservativ/rechtspopulistischen Parteien in allen Ländern West- und
Osteuropas. Dass dies nun auch in einem lange als liberal und tolerant
geltenden Land wie den Niederlanden der Fall ist mag besonders überraschen,
bestätigt allerdings nur eine generelle europäische Tendenz.
Doch rechtsextreme Parteien haben sich in Frankreich, Belgien. Italien, der
Slowakei und in einzelnen deutschen Bundesländern seit langem etabliert.
Nationalkonservative Parteien ebenso in Norwegen, Dänemark, Osterreich, der
Schweiz, Polen und Ungarn.
Gibt es Parteien, die Europa besondere Sorgen bereiten sollten?
Demokratinnen und Demokraten in ganz Europa, nicht einfach nur die EU als
Institution, muss die Parteien in allen genannten Ländern einiges zu denken
geben. Denn rechtsextreme und nationalkonservative Gruppierungen suchen die
Zukunft im Ausschluss und im Selbstbezug und im Rückzug auf das Nationale.
Dass kann nur schief gehen. Wir müssen transnational neue demokratische
Institutionen und Verfahren aufbauen (Stichwort: Europäische Verfassung mit
direktdemokratischen Elementen) welche der Politik auf europäischer Ebene zu
einer neuen Legitimation verhelfen, so dass diese ihrerseits die Märkte
sozial- und ökologie-verträglich zähmen kann. So lassen sich die Ursachen
angehen, die heute den Rechtsextremen und Nationalkonservativen sich
verlassen fühlende Menschen zuführen.
Was sind die Gründe? Warum werden rechtsextreme Parteien gewählt?
Vor allem in den westeuropäischen Staaten verlieren die grossen
Volksparteien der linken oder rechten Mitte, die alle eine mehr oder weniger
ausgeprägte sozialdemokratische Politik verfolgten (Der Staat fängt auf und
gleicht sozial aus) an Unterstützung, weil das klassische
sozialdemokratische Projekt national nicht mehr zu leisten und
nationalstaatlich auch nicht mehr zu finanzieren ist. Dies lässt sich
exemplarisch in Deutschland, Osterreich und den Niederlanden beobachten.
Gleichzeitig hat sich aber das Europa noch nicht entwickelt, das sozial- und
umweltpolitisch die traditionellen sozialdemokratischen Leistungen auf einer
neuen Ebene weiterführen kann. Dies hat viele Wählerinnen und Wähler schwer
verunsichert und sie fühlen sich verlassen und allein gelassen. Dies macht
sie ansprechbar für nationalistische Verengungen und
Sündenbockargumentationen.
Hat die EU ein Rezept, um diesen Trend zu stoppen?
Es gibt nicht einfach simple Rezepte und diejenigen, die dies behaupten,
erliegen bereits wieder der Vereinfachung. Doch wir kommen überall in Europa
um grosse Grundsatzdiskussionen nicht herum. Diese wird spätestens nach
den Wahlen in Frankreich in eine Debatte um die Perspektive der Reform der
EU einmünden. Diese darf nicht länger ein Elitenprojekt bleiben. Die neue
EU-Verfassungsdiskussion muss so geführt werden, dass die meisten Menschen
merken, dass ihre Sorgen und Nöte wirklich ernst genommen und die EU nicht
mehr als Teil des Problems, sondern als Teil der Problemlösung erfahren
wird. Sie muss sich die Instrumente verschaffen, um zu verhindern, dass der
Steuerwettbewerb weiter die Sozialstaaten ruiniert, sondern auf
europäischer für den sozialen und wirtschaftlichen Ausgleich zu sorgen.
Es ist bezeichnend, dass die beiden grossen Volksparteien in den
Niederlanden die EU-Zukunftsdebatte - trotz dem Nein der Holländer im Juni
2005 - bei der vergangenen Wahl ausgeklammert haben und die Sozialistische
Partei mit einer Kampagne gegen die Armut diese Wahlen gewinnen konnte.
Welche Entwicklungen sind für Zukunft zu erwarten?
Sicher ist, dass die Brutalisierungen im Alltag, welche die Vorherrschaft
der Märkte und des Kapitals sowie die Entmachtung der Politik für viele
Menschen nicht nur in Europa mit sich brachten, keine friedlichen
Perspektiven eröffnet. Wir müssen die Märkte wieder zivilisieren und dies
kann nur über die Stärkung der Demokratie auf allen Ebenen, auch der
europäischen, geschehen. Gerade die Starken und die Mächtigen müssen sich
wieder an Regeln gewöhnen, die sie zwingen, das Gemeinwohl vermehrt zu
achten. Das wird auf europäischer Ebene viele Reformer und Reformen
motivieren, die auch die Schweiz veranlassen werden, mehr an die Schwachen
und Benachteiligten zu denken bei ihrem Tun, die sich im In- und Ausland
nicht länger übersehen lassen.
Wir können in der Schweiz kein einziges der vielen wirklich existenziellen
Probleme ohne Europa besser lösen und müssen auch bei der Ausgestaltung der
kantonalen und eidgenössischen Politik vermehrt an deren Folgen für Europa
denken. Nur Nationalkonservative und noch weiter Rechtsstehende werden sich
dieser These widersetzen. Deshalb sollten wir sie in den kommenden Monaten
bis zu den Wahlen im nächsten Oktober auch eingehender und sorgfältiger
bedenken und diskutieren.
Andreas Gross
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