27.09.2006

Vaterland

Europa – das klassische
Katastrophenkind


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Die Menschen sind die Quelle legitimer politischer Macht: Der Schweizer Nationalrat Andreas Gross referierte in der Alten Weberei in Triesen über die notwendige Globalisierung der Demokratie.
Wir leben in einer Zeit, in der sich Innen- und Aussenpolitik kaum mehr trennen lassen und die Wirtschaft zunehmend den Ton in der Welt angibt. Leben wir in einer Krise der Demokratie?
Ja, sagt Andreas Gross.


Von Desirée Franke-Vogt

Die demokratische Politik hat ihren Ort verloren. Wo sie ist, ist fast keine Politik mehr. Und wo die Politik hauptsächlich ist, ist (noch) keine Demokratie. Diese Überzeugung vertritt der Nationalrats- und Europaratsabgeordnete sowie Politikwissenschaftler Andreas Gross. Auf Einladung der Anfang September gegründeten Aussenpolitischen Gesellschaft Liechtensteins referierte er gestern Abend in Triesen zum Thema«Von der Aussen- zur Weltinnenpolitik. Souveränität und Direkte Demokratie angesichts der transnationalen Transformation». Gross ist davon überzeugt, dass eine Demokratiebewegung unerlässlich ist, wenn die EU demokratischer werden soll. Und dies muss sie in seinen Augen. «Denn die europäische Macht lässt sich nicht länger ausreichend über die nationalen Exekutiven legitimieren.»

Bisher nur aus Katastrophen gelernt

«Wir leben in einer Krise der Demokratie», so Gross. Denn Wirtschaft und Demokratie würden nicht mehr auf derselben Ebene spielen. «Die Wirtschaft gibt den Ton an. Und die Freiheit, die uns die Demokratie gewährleisten soll, wird zur Freiheit der Privilegierten», fürchtet er. Europa habe in den Jahren zwischen 1945 und 1957 eine antizipatorische Glanzleistung geschafft, die sich heute vermutlich nicht wiederholen lasse. Der Europarat habe die Menschenrechtskonvention (EMRK) erarbeitet, und ein supranationales Gericht geschaffen, bei welchem jeder Bürger seinen eigenen Staat einklagen könne. «Es wurde eine Autorität geschaffen und anerkannt, die über der nationalen Souveränität steht», erklärte er die Bedeutung des Menschengerichtshofs. Und dieser ordnen sich alle 46 Mitgliedsländer des Europarats unter. Gross bemängelte jedoch, dass Europa bisher nur aus Katastrophen gelernt und nie vorher reagiert hat. «Europa ist ein klassisches Katastrophenkind. Aber wir müssen lernen, uns ohne Katastrophen weiterzuentwickeln.»

Ein Privileg des Schweizerseins?

Gross betonte, dass die Menschenrechte ebenso wie die Demokratie ganz allgemein Früchte kollektiver Lernprozesse sind. «Und so gibt es keine perfekte, vollendete Demokratie oder Geltung der Menschenrechte. Aber wir können ihre Unvollendung im Wissen abbauen, ihre Vollendung zu schaffen.»

Ein positives Beispiel in dieser Hinsicht sei die Schweiz. Sie habe sich auch ohne Katastrophen gut entwickelt, müsse allerdings in menschenrechtlicher Hinsicht noch viel dazulernen. So meinten viele Schweizer immer noch, die Demokratie sei kein Menschenrecht, sondern ein Privileg des Schweizerseins. Dies ist nach Ansicht von Gross auch der Grund dafür, weshalb das verschärfte Asylgesetz erfolgreich angenommen wurde. «Ein katastrophaler Tag für die Schweiz», kommentierte Gross das Abstimmungsergebnis vom vergangenen Sonntag. «Wir gestehen Flüchtlingen nicht zu, was ihnen zusteht, aber wir für uns selbst beanspruchen würden.»

Kollektive Lernprozesse für Europa

Gross plädiert nicht dafür, einen Weltstaat zu errichten. Aber es benötige eine Art Globalisierung des europäischen Menschenrechtssystems. Die einseitige ökonomische Globalisierung von heute bedürfe einer Globalisierung der Demokratie. «Es muss künftig möglich sein, individuell nicht nur gegen Staaten klagen zu können, sondern auch gegen wirtschaftliche Akteure der Macht». Nach Ansicht von Gross bedarf auch die direkte Demokratie der Transnationalisierung, weil der Nationalstaat für die Erfüllung jeglichen demokratischen Anspruchs zu klein geworden sei. «Wir benötigen auch für Europa in der EU kollektive Lernprozesse.» Der Mensch selber sei die Quelle legitimer politischer Macht. «Die politischen Aufgaben dürfen nicht den Mächtigen überlassen werden. Wir müssen sie vielmehr als unsere Aufgabe als engagierter Bürger sehen, als Liechtensteiner die Volksrechte wahrnehmen, als Europäer für ein rechtlich verbindliches Menschenrechtsverständnis und für deren globale Garantie kämpfen.»


Andreas Gross



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