15.12.2001

Aktionskreis mehr Demokratie, Tübingen

Vom politischen Sinn der Direkten Demokratie

Am 23. November 2001 sprach Andreas Gross auf Einladung des örtlichen Aktionskreises von Mehr Demokratie in Tübingen. Er ist Schweizer Nationalrat und Leiter des Instituts für Direkte Demokratie in St. Ursanne.

In seinem Vortrag ging er zuerst auf die von Bürgern, Intellektuellen und auch von Politikern vorgebrachten Argumente gegen Direkte Demokratie ein. Als nächstes beschäftigte er sich mit den Gehalt und den Vorteilen Direkter Demokratie und formulierte die These, dass nicht ihre blosse Existenz, sondern erst faire Verfahrensweisen sie lebendig und erfahrbar machen. Dann entsteht der «Appetit auf Direkte Demokratie».

Gegenargumente sind Missverständnisse

Zahlreiche Politiker sehen in der Direkten Demokratie eine «Bedrohung» der parlamentarischen Demokratie. Andreas Gross widerspricht dem: Für ihn sind Abstimmungen eine zusätzliche Möglichkeit, demokratisch Sachentscheidungen zu fällen. Direkte Demokratie stelle keine Alternative zum Parlamentarismus dar, sondern eine Ergänzung.

Der Volksgesetzgebung wird oft vorgeworfen, zu viel zu kosten. Diesem Fehlschluss erliegt, wer nur die Dauer der Verfahren und die mit der Abstimmung entstehenden Kosten sieht. Andreas Gross Meinung nach sind die erhöhte Akzeptanz und der Nutzen einer gründlichen Meinungsbildung bei Entscheidungen durch Direkte Demokratie eindeutig höher zu bewerten.

Vorteile Direkter Demokratie

Im weiteren Verlauf des Vortrags zählte der Vortragende die Vorteile Direkter Demokratie auf:

Direkte Demokratie gibt dem Bürger mehr Freiheit: Er kann nicht nur zwischen demokratischen Angeboten wählen, er kann mit ihrer Hilfe Sachentscheidungen mitgestalten und mitbestimmen. Die Identifikation und Integration der Bürger in politische Entscheidungsprozesse wird erhöht.

Zweitens wird die Macht zwischen Bürgern und Politikern feiner verteilt. Hierdurch verlieren einige Akteure ein wenig Macht, aber viele gewinnen viel Einfluss dazu. Die Kluft zwischen Bürgern und Politikern wird kleiner.

Drittens stellt Andreas Gross in den repräsentativen Demokratien eine wachsende Diskrepanz zwischen den Fähigkeiten der Bürger und der Nachfrage nach ihnen in der Politik fest: Ihre Ideen werden nicht genutzt und dieser Reichtum an Kreativität verschwendet. Direkte Demokratie bezieht das Potential der Bürger ein, verbessert die Qualität der Politik und baut Politik- und Parteienverdrossenheit ab.

Viertens stärkt Direkte Demokratie die Parlamente, denn mit Volksinitiativen können Bürger die Parlamente mit der Lösung von Aufgaben oder Problemen betrauen: Der Souverän kann Einfluss auf die Tagesordnung nehmen.

Die Bedeutung der Verfahren für Direkte Demokratie

Im Anschluss kam Andreas Gross auf die Ausgestaltung der Verfahren zu sprechen. Für ihn bestimmen diese die Güte der Direkten Demokratie:

Grundsätzlich sollten ausführliche und lange Debatten vorgesehen sein. Eine Volksabstimmung ist weder Meinungsbild noch eine Meinungsumfrage, sondern ein Prozess, der Zeit braucht. Zu kurze Zeiträume verhindern eine Diskussion um die besten Ideen und schränken die Meinungsbildung ein. Kurze Verfahren führen daher eher zu einer Konfrontation. Direkte Demokratie ermöglicht maximalen Nutzen, wenn sie eine kooperative und nicht konfrontative Zusammenarbeit der unterschiedlichen Gruppen herbeiführt.

Ausserdem sollten die Verfahren gewährleisten, dass nicht nur grosse Organisationen sie nutzen könnten. Direkte Demokratie muss für alle offen sein und auch Minderheiten Gehör verschaffen.

Aus diesem Grund sollten die einzelnen Stufen der Volksgesetzgebung so formuliert sein, dass auch Minderheiten sie anwenden können: Eine dem entsprechende geringe Anzahl von Unterschriften und ein langer Zeitraum für die Sammlung sollten für eine Volksinitiative vorgesehen werden. Ebenso wichtig sind freie und offene Unterschriftensammlungen.

Quoren, gleichgültig ob diese nun zustimmungs- oder beteiligungsabhängig sind, verraten die «Seele der Direkten Demokratie»: Denn die Nichtteilnahme bzw. die Stimmenthaltung kann ausgenutzt und instrumentalisiert werden. Die Mehrheit in einer Abstimmung wird auf diese Weise bestraft.

Ebenso sollte der Souverän über alle Themen abstimmen können: Denn warum soll der Bürger über weniger Themen entscheiden können als seine Repräsentanten?

Auch eine Erstattung der Kosten ist wichtig. Dann entstünden kleinen Initiativen keine finanziellen Nachteile gegenüber grossen bzw. finanzstarken Gruppen.

Direkte Demokratie, die auf solchen Bedingungen aufbaut, führt zu einer «weicheren Politik», geprägt durch Lernprozesse, Interaktion und gegenseitigen Respekt.

Wir und viele andere Anwesende gingen gestärkt und überzeugter aus der Veranstaltung. Der Vortrag war hilfreich in Bezug auf die alltäglichen Fragen, denen sich ein Vertreter der Direkten Demokratie ausgesetzt sieht. Und es wurde klar, dass ein langer Weg vor uns liegt.

Christian Büttner & Fabian Reidinger

Andreas Gross

 

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